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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Körper, als hätten sie keine Knochen.
    In der Ferne hörte er ein Auto hupen. Er hob den Kopf ein wenig an und blickte zurück zum Ufer. Auf der kurvenreichen Küstenstraße sah er das Taxi fahren, das seine ungetreue Tochter zum Flughafen brachte.
    Da spürte er, wie einsam er sich plötzlich fühlte. Er drückte sein Kreuz durch, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den blauen Himmel. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Das Blau des Firmaments wich jener dunklen Grenzenlosigkeit des Alls, die ihn schon als Kind zutiefst beunruhigt hatte. Und abermals überkam ihn ein solcher Groll gegen die Endlichkeit des Lebens, daß er einen Schrei ausstieß.
    Alles ringsum war mit einem Mal ganz still, und er hörte auf, sich zu bewegen. Er ließ sich treiben. Verführerische Stimmen wisperten, was denn so schlimm dran sei, einfach spurlos zu verschwinden. Er drehte sich auf den Bauch und breitete Arme und Beine wie ein Fallschirmspringer aus. Dann machte er sich schwer und ließ sich langsam in die Tiefe sinken. Seine Haare bewegten sich wie Seegras in den Wellen, und Luftbläschen perlten aus seiner Nase. Er schloß die Augen. Die Vorstellung, die Luft ganz langsam aus den Lungen herauszulassen und das Wasser einzuatmen, schien ihm mit einem Mal so folgerichtig wie einfach.
    Im Groll auf seine undankbare Tochter tauchte er so tief hinab, daß seine Fußspitzen schon den Meeresgrund berührten. Sein Herz hämmerte wie eine Pauke. Seine Lungen gierten nach Sauerstoff. Sein Brustkorb war ein schmerzender Ballon, der jeden Augenblick zu platzen drohte. Ihm wurde himmelangst. Er stieß sich ab und glitt mit ausgestreckten Armen zur Wasseroberfläche, wo sich das Tageslicht in hellen Bündeln brach. Er tauchte auf in einem Wasserschwall, schlug um sich, rang besinnungslos nach Luft und kollidierte fast mit einer Luftmatratze, auf der ein nacktes Mädchen lag, das seit einigen Tagen regelmäßig dann auftauchte, wenn er am Morgen schwimmen ging: ein Knie aufgestellt, das andere Bein langgestreckt, eine Hand im Wasser, den Daumen der anderen im Mund. Das Mädchen schreckte hoch und blickte ihn verärgert an.
    » Pardonnez-mois…« Er streckte eine Hand aus dem Wasser, » …je suis désolé, mademoiselle!«
    Wie neugeboren stieg er ans Ufer, glücklich, sich besiegt zu haben. Nimm dich nicht so wichtig, alter Mann. Johanna war wie er ein Profi. Aus ihrer Gleichgültigkeit durfte er ihr keinen Vorwurf machen, selbst wenn sie ihn zutiefst enttäuscht hatte.

Eisenstadt am Neusiedler See – 1918
    Schon einmal wollte er lieber tot sein als nachzugeben. Sie hatten ihn in den Karzer gesperrt, bis er zu Kreuze kröche und endlich Abbitte leistete. Er hockte mit angezogenen Knien auf der Holzpritsche, zitternd vor Kälte, und hatte sich einen Woilach über die Schultern gelegt. Seine Zähne schlugen aufeinander. Manche Stellen an den Wänden seiner Zelle waren vereist, und das vergitterte Kellerfenster hatten Eisblumen überzogen, bis auf ein kleines Guckloch auf den Kasernenhof, das er mit seinem Atem offen hielt. Der kleine Kanonenofen war, wie schon in den Nächten zuvor, ausgegangen. Der Pedell, der ihm das Essen brachte, würde erst am Morgen wieder Feuer machen. Atemnebel wölkte vor seinem Gesicht, und feiner Reif hing in seinen Brauen und Wimpern.
    Vom Tage seines Eintritts in die k.u.k. Militäroberrealschule an wurde er als Adoptivsohn und Protegé des Hofrats von den Instruktoren und älteren Kadetten als » Judenhaberer« schikaniert. Anfangs hatte er noch versucht, sich gegen ihre Diffamierungen zu wehren, weil er wußte, sie würden niemals Ruhe geben, wenn er sich duckte. Als kleiner Sextaner aber war er den Sekkierereien und Prügelstrafen der Älteren hilf- und schutzlos ausgeliefert. Denn in der Kadettenschule– in Eisenstadt das » Institut« genannt– hatten die Zöglinge der Oberstufe aus einem überlieferten Ehrenkodex heraus das Recht, den Jüngeren Befehle zu erteilen, und, wenn sie nicht gehorchten, sie körperlich zu züchtigen. Die Instruktoren wußten, daß sie ihr Recht mißbrauchten. Aber unter dem Vorwand der Disziplin tolerierten sie die Quälereien, und oft beteiligten sie sich selbst daran.
    Es war dunkel, und er fürchtete sich. Bleierne Stille herrschte in der Zelle. Nur sein Herz pochte, und von Zeit zu Zeit grummelte es in seinem hungrigen Magen. Gehüllt in Schweigen, das ihm wie eine Sprache schien, die keiner außer ihm verstand, hörte er Stimmen flüstern, wie nach der Beerdigung des

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