Augenblick der Ewigkeit - Roman
an, von der Avenue Amsterdam abzubiegen.
» Hier soll Joachim wohnen?« Maria war entsetzt.
» Warum nicht? Hier leben viele Schauspieler, Schriftsteller und Musiker. Die Mieten sind billig, der Time Square nahe und die Theater am Broadway zu Fuß zu erreichen.« Während das Yellow Cab die 56 th Street zum Fluß hinunterfuhr, vorbei an verfallenden Reihenhäusern, Drugstores und Pornokinos, erklärte er ihr, wie Hell’s Kitchen zu Joachims zweiter Heimat geworden war, eine gesetzlose zwar, doch auf faszinierende Weise auch eine sehr lebendige. Die Kneipen, Theater und Bars des Rotlichtbezirks dienten ihm als Wohn- und Arbeitszimmer, wo er, wenn er nicht mit einer Band auftrat, um seinen Unterhalt zu verdienen, seine komplizierte Minimalismusmusik komponierte, von der alleine er nicht leben konnte.
Dort, wo das Taxi die 11 th Avenue überquerte, hörten die Häuser auf, und auf dem Brachland der Lower Westside zwischen Autowracks, entsorgten Möbeln und ausgeweideten Kühlschränken türmte sich der Abfall. Hier, mitten im eng bebauten Manhattan, gab es Platz im Überfluß. Das Taxi hielt auf einem Baugelände, das als Parkplatz diente. Kniehohe Kamillenstauden wucherten im aufgebrochenen Asphalt. Ihre weißen Blütenzungen hingen welk an den gelben Polstern, die verschwenderischen Duft verströmten. Maria stieg aus, zerrieb einige der aromatischen Blütenköpfchen in der Hand und roch daran. Der Stallgeruch der Pferde, den der Wind von den Docks zu ihr herüberwehte und sich in ihrer Nase mit den ätherischen Ölen der Kamillenkräuter mischte, erinnerte sie an jenen fatalen Sommer 1973, in dem sie Joachim in die Provence begleitet hatte.
Joachim hatte sich in sie verliebt und war glücklich, weil sie auf der Fahrt zum ersten Mal die Nacht gemeinsam verbracht hatten. Bei Beaurecueil hatte er sein Käfer-Cabrio im Schatten einer Schirmpinie geparkt. Ein weißer Vollmond stand, so wie zur Stunde, am taghellen Himmel, und vor dem blendenden Kalksteinmassiv der Sainte-Victoire lagen ockerfarbene Dörfer auf vorspringenden Bergbastionen, eingerahmt vom Mergelsand ausgetrockneter Flußbetten. Sie entsann sich ganz genau: Sie lag auf einem Plaid, in einem hellen Sommerkleid, das mit kleinen schwarzen Punkten bedruckt war, den Kopf in die Hand gestützt, und betrachtete den mächtigen Gebirgszug wie ein gigantisches Gemälde. Er kniete hinter ihr, und seine Hand strich über die Seide ihres Kleides, die in der sengenden Mittagssonne so heiß war wie ihre Haut darunter. Wie ein verliebter Junge ließ er Sand auf ihre nackten Arme rieseln, während er über Cézanne belanglose Bemerkungen machte– nur um sie zu reizen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen und ihn anzublicken, sonst hätte er gesehen, daß sie ihn nicht wirklich liebte.
Sie folgte Lassally über den verlassenen Parkplatz in das schmucklose Studio und bekam Angst vor ihrer eigenen Courage. Seit Jahren hatte sie sich vor dieser Begegnung gefürchtet, sosehr sie sie herbeigesehnt hatte.
Joachim saß an einem Konzertflügel. Sie war überrascht, wie wenig ähnlich er seinem Vater sah. Er trug eine Brille mit ovalen Gläsern, und die Haut seines glattrasierten Gesichts war getoastet wie die mancher Segler oder Bergsteiger, die der Sonne und extremen Wetterbedingungen ausgesetzt sind. Er hatte volle blonde Haare, die von der Sonne zusätzlich gebleicht waren, und in den Augenwinkeln nistete ein Kranz unzähliger heller Lachfältchen.
Ein hochgewachsener Latino mit einem Ziegenbart ließ seine Filzklöppel über die Metallplatten eines Vibraphons wirbeln. Rasch fielen Joachim und seine Musikerkollegen ein und spielten Pingpong mit den vorgegebenen Tönen. In einem heillosen Durcheinander von Timbals, Tamburins, Congas, Tumbas und Bongos, von Tom Toms, Trommeln und Zimbeln spielte er in einer Band exotisch aussehender Musiker. Sie wippten mit den Beinen, wackelten mit den Köpfen und kauten ihren Chewinggum im Rhythmus der Musik. Maria und Lassally warteten in dem dunklen Tonträgerraum, bis der Take im Kasten war, und sahen durch eine schalldichte Trennscheibe den Musikern beim Spielen zu.
Auf ein Zeichen Lassallys zog der Toningenieur die Flachbandregler seines Mischpults auf null, beugte sich vor und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. » Zehn Minuten Pause, Jungs. Big Boss ist eingetrudelt.«
Die rote Signallampe an der Studiotür erlosch, und Lassally durfte das Aufnahmestudio betreten. Während die anderen für eine Kaffeepause das Studio
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