Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter
einmal Schneeflocken zwischen den Regentropfen, und sie verkleben dir bereits die Augen.
Schließlich bist du im dicksten Schneefall, und der Schnee macht den Steig zu einer Eisbahn. Du musst höllisch aufpassen - Ausrutschen ist tödlich! Der Schnee legt sich auch auf den Ballen, den du trägst - du siehst es bei den anderen -, und du musst ihn mittragen.
Die Leute vor dir verschwinden in einem grauweißen Schleier.
Aber du siehst die ganze Zeit, trotz dieses Schleiers, den Schreiber einen Steinwurf vor dir. Du hast bis jetzt kaum auf ihn geachtet. An manchen Biegungen taucht er auf, dann verschwindet er wieder. Aber du merkst, dass er sich nicht löst von vier Knechten, die wie du ihre Lasten schleppen. Da weißt du plötzlich, wo die wertvollste Fracht eures Zuges ist. Sie haben sie in vier Lasten geteilt.
Nach oben wird es jetzt heller. Die Schlucht hat sich verbreitert, der Weg durch die furchtbare Schlucht geht zu Ende.
Es wird auch höchste Zeit. Du hast keine Gewalt mehr über die Glieder, deine Knie zittern haltlos, und die Felsen fangen an, sich um dich zu drehen. Du gehst noch immer dicht an der Felsen-wand - so dicht, dass dein Ballen daran streift und dich bei Vorsprüngen in die Tiefe drücken will. Der Blick auf den weißgrünen Wasserfaden da unten aber ist zu grausig.
Jetzt stockt der Zug. Da vorn ist Geschrei. Du kannst nichts verstehen, und du kannst auch nichts sehen; nicht nur wegen des Schneefalls, sondern auch, weil Nebel aufkommt. Es kommt heran - Wolken! Haben sie unten in Chur gesagt: Passt auf, dass ihr nicht in Wolken kommt!
Das Stehen ist gut, du kannst die Last etwas an der Felswand abstützen, aber du frierst Stein und Bein und zitterst erbärmlich. Die Männer vor dir kannst du nicht überholen, dazu ist der Steig zu schmal. Ein scharfer Wind peitscht dir den Schnee ins Gesicht und klatscht ihn überall fest. Die Leute um dich sehen aus wie Schneemänner, und du weißt, dass du genauso aussiehst - aber nichts daran ist lustig. In der Tiefe, wie aus der Hölle, rumort der Rhein.
Der Schneefall lässt jetzt nach.
Du hättest gerne deinen Ballen los. Doch alles steht still, nur der Wind heult und singt, und in der Schlucht siehst du Nebelschwaden wie böse Geister auf und ab steigen, sie drehen sich und ziehen und zerren an dir.
Es muss etwas Schreckliches geschehen sein da vorne.
Ausgerutscht und abgestürzt in den tobenden Abgrund? Oder sind Felsen herabgebrochen und haben einen der Träger mitgerissen oder erschlagen? Oder mehrere?
Es sind tatsächlich ein paar Felsbrocken auf den Steig gestürzt und haben Träger in die Tiefe gerissen; so sagen sie es von vorne nach hinten durch.
Jetzt geht es weiter, aber du hast die Augen nach oben gerichtet, wo zwischen den treibenden Wolkenschwaden breite Flächen von Schnee schimmern -
Hier ist es geschehen!, sagen sie. Du reißt die Augen auf und schaust mit klopfendem Herzen hinab: Herr, gib den armen Seelen die ewige Ruhe, betest du. Die Hände falten kannst du aber nicht, sie sind - blau gefroren - in den Tragegurt deiner Last gekrampft. Mit halbirrem Blick schaust du wieder nach oben und duckst dich.
Da! Da oben bewegt sich etwas! Du siehst ein, zwei, drei Gestalten über eine dieser weißlichen Flächen laufen. Das sind keine Geister - das sind richtige Menschen! Du siehst sie sich einen winzigen Moment nach oben bewegen.
Zufall?, fragst du. Genau da, wo das Unglück geschehen ist - Vier Männer hat es in die Tiefe gerissen, samt ihrer Last, erfährst du schließlich. Vier Männer, denkst du. Die vier, um die der Schreiber immer herumgetanzt ist?
Haben die da oben die Steine absichtlich heruntergeworfen?
Am Abend seid ihr in dem kleinen Nest Zillis, wo ihr in der Kirche für das Heil der Abgestürzten betet. Du siehst über dir unzählige Bilder, die an die Holzdecke gemalt sind: Geflügelte Drachen und Ungeheuer, Hörner blasende Gestalten mit Fischschwänzen, du siehst einen zottigen, nackten Mann mit Krallen und Flügeln, dem die Rippen herausstehen und der Hörner hat und im Licht der Kerzen die Zähne bleckt, dass du Angst bekommst. Du siehst aber auch die Heiligen Drei Könige, du siehst Maria und das Kind in der Krippe.
Die Abgestürzten brauchen besonders viele Gebete, weil ihr Leichnam nicht in geweihte Erde kommt. Man findet keinen mehr, der in die Via-Mala-Schlucht gestürzt ist!
Dann, in der Herberge, bemerkst du die Aufregung: Der Schreiber rennt bleich und schwitzend herum und fragt. Auch dich fragt er:
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