Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter
blutig, um deren Tapferkeit zu erlangen.
König Heinrich besiegte sie einmal bei dem Ort Riade am Fluss Unstrut bei den Thüringern. Mein Lehrer hatte damals die Siegeskunde gehört. Aber es war nur ein scheinbarer Sieg - sie kamen wieder und wieder.
Ich wusste, sie konnten nicht besiegt werden.
An diese Teufel war ich gesandt, mitten hinein in die Belagerung der Bischofsstadt Augsburg.
Wir fanden einmal vor unserem Klostertor einen Mann im Gras liegen. Ein Pfeil hatte ihn niedergestreckt. Es war ein wichtiger Mann, ein Reiter König Ottos, an unser Kloster gesandt mit einer Botschaft, die kein Ohr je hören wird.
Er war so bleich und still, nie würde er sich mehr erheben, seine Augen waren erloschen, seine Ohren verschlossen, seine Finger waren taub, seine Zunge stumpf, er würde verfaulen und zu Erde werden - in einem Jahr wären nur noch Knochen übrig, und auch die würden vergehen. Mir kamen damals böse Gedanken: Zweifel an der Auferstehung und am ewigen Leben.
Vater Willibrod, mein Lehrer, merkte es: Am Abend ritzte er mit einem Zirkel einen Kreis in ein Brett.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ein Kreis«, sagte ich.
»Und was ist das, ein Kreis?« Er stach mit der Spitze des Zirkels viele Punkte auf die Kreislinie.
Ich überlegte: Ein Kreis - gleichmäßig krumm? Ich merkte: Das war keine wirklich gute Antwort. Was ist schon ein Kreis? Ein Kreis ist eben ein Kreis - man kann ihn mit der Hand in die Luft malen. Aber mit Worten beschreiben kann man ihn nicht. Dachte ich.
»Es ist nicht schwer«, sagte Vater Willibrod. »Ich sage es dir: Ein Kreis sind alle Punkte, die von einem bestimmten Punkt dieselbe Entfernung haben: Alle diese Punkte bilden einen Kreis. Merk dir: Das ist der Name des Kreises.«
Es war wirklich leicht. Aber man musste erst darauf kommen! Ich kam seltsamerweise nie auf solche Dinge - der Name des Kreises: Alle Punkte, die von einem Punkt -
Aber ich lernte, was man mir sagte, und wusste es dann.
»Du bist ein guter Schüler«, sagte mein Lehrer immer.
Dann erhob sich Vater Willibrod und warf das Brett mit dem eingeritzten Kreis ins Feuer. »Und jetzt?«, fragte er. »Wo ist der Kreis jetzt?«
»Verbrannt«, sagte ich und war froh, dass die Antwort so leicht war. »Weg!«
»Und es wird nie mehr einen Kreis geben?«
Ich überlegte laut: »Ihr habt einen Zirkel, Ihr könnt einen neuen ritzen.«
»Und wer sagt dir, dass es wieder ein Kreis wird?«
Ich überlegte: »Ja, natürlich, der Einstich in einen Punkt, die Schenkel des Zirkels, alle Punkte, die von einem bestimmten Punkt dieselbe Entfernung -«
»Siehst du, so einfach ist das mit dem Tod«, sagte mein Lehrer und lächelte. »Wir können jederzeit wieder einen Kreis ritzen, weil wir wissen, wie ein Kreis beschaffen ist. Wir können ihn gewissermaßen wieder bei seinem Namen rufen. Es zählt nicht, wenn einer zerstört wird - es wird immer Kreise geben, weil wir den Namen des Kreises kennen.«
Ich staunte. Er hatte Recht.
»Und wenn nun Gott«, fuhr mein Lehrer fort, »den Namen des ermordeten Reiters kennt, wie er den Namen des Kreises kennt? Und wenn er deinen Namen kennt und meinen, denn er hat uns ja alle gemacht, dich, den Reiter und den Kreis.«
»Dann«, stammelte ich, und ein großes Gefühl des Glücks durchströmte mich, »dann kann er uns immer wieder neu -«
»Siehst du«, schloss er.
Am nächsten Tag zeigte er mir in einem Buch ein Bild, auf dem der Herr die Welt erschuf. Mit einem Zirkel erschuf er sie! Dann fügte mein Lehrer noch etwas hinzu: »Welcher Kreis ist der wichtigere? Der unzerstörbare, dessen Namen wir wissen? Oder der, den ich verbrannt habe?«
Wie leicht war die Antwort auf diese Frage!
Mein Lehrer Willibrod ist nun schon lange tot, er ist sehr alt geworden. Aber ich wusste, dass er nicht wirklich tot war. Und seither wusste ich, worauf es ankam. Es kam nicht auf das Leben an, sondern auf den Tod! Oder genauer auf das, was danach kommt, wenn Gott uns wieder bei unserem Namen ruft. Ich hatte es verstanden. Glaubte ich.
Mein toter Lehrer hat mich damals auch vor Mädchen und Frauen gewarnt und mir von demjenigen Teil des Menschen erzählt, den er den tierischen nannte und dem die Frauen mehr an-gehörten als wir Männer. Dieser Teil des Lebens, sagte er, dient der Vermehrung aller Lebewesen, der Tiere wie der Menschen, und verleitet Mensch und Tier mit der Empfindung der Lust zur Fortpflanzung. Die Frauen verlocken die Männer mit ihrer Schönheit und lassen sich dann von den
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