Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter
denen sie sich langsam, langsam entlangquälten. Furchtbar hoch waren die Kämme der Berge, von denen die weißen Massen abbrachen und brüllend in die Täler schossen.
Schlimm war der Blick talwärts, in schaurige Abgründe, durchsetzt von Felsentrümmern und zerschmetterten Bäumen, und schlimm der Blick über ein Meer von Gipfeln, von denen lange Schneefahnen wehten wie in einer Schlacht.
Löse dich vom Bann, König!, tönte jeder Schritt. Löse dich vom Bann!, hieß jeder Blick hinüber zu grausigen Schneewülsten, die an den Graten hingen - brechen sie und reißen mich in die Tiefe und hinab in die Hölle, oder halten sie? Jeder Tag, den er überlebte bei seinem gebannten König, war dem Teufel gestohlen, und jeder Tag, der den Tod bringen konnte, war ein Helfer Satans. Ein Windstoß, der ihn in die Tiefe warf - er stürzte ihn direkt ins Höllenfeuer.
Bei meinem Bruder hätte ich bleiben sollen! Und er knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste.
Aber dann sah er wieder die Frau, wie sie aus dem Hause des Leutpriesters gebracht wurde und wie Mönche sie als Hure aus dem Dorf wiesen.
Er sah auch den König da vorne reiten, dem der Bann noch schwerer auf der Schulter und auf der Seele liegen musste als ihm, und er sah die Königin und die Herzogin von Schwaben und den warm verpackten Jungen, den künftigen König - sie alle erwarteten seinen Schutz.
Im Tal jenseits des Mont Cenis mit seinem zugefrorenen Karsee lag Susa, der Stammsitz der Schwiegermutter, die den Zug, ihren kleinen Enkel und ihre Tochter, die Königin, begleitete, voll Hoffnung auf Vergrößerung ihres Landes: »Bald«, sagte sie zum König, »wird es besser. Hier im Süden erwartet uns andere Luft.«
Aber dieser Winter war auch in Italien schrecklich; die Oliven-bäume erfroren - so hörte der König - von der Lombardei bis hinunter nach Kalabrien. Dennoch erwärmte sich das Herz Heinrichs täglich mehr, als bei dem endlosen Abstieg aus der Eisregion hinab in die von winterkahlen Lärchen umsäumten Täler um Susa immer mehr Lombarden herangeritten kamen und dem König dienen wollten. Viele auch mit der Waffe: Ritter, Handwerker, Bauern, ja sogar Geistliche. Schließlich wälzte sich ein gewaltiges Heer durch Oberitalien und wandte sich Richtung Rom.
»Ihr seid kein Schutzsuchender mehr, kein Schwacher, der sich dem Stärkeren unterwirft und um Verzeihung und Gnade bittet. Ihr seid jetzt ein Mann, der befiehlt und unterwirft«, sagte die Schwiegermutter hoffnungsvoll zum König. »Ihr werdet nicht nachgeben -«
»Man wird sehen, was ich bin«, sagte Heinrich mit seltsam unsicherem Blick, »ich werde nicht nachgeben. Aber man nimmt zum Stopfen der Risse keine Mauerbrecher.«
»Was heißt das? Redet nicht in Rätseln. Was sind das für Risse?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er, »ich kenne sie nicht alle.«
»Es ist ziemlich aussichtslos mit Euch«, meinte die Schwiegermutter enttäuscht.
»Nichts ist aussichtslos«, sagte der König halb im Spott.
»Der Papst wird zu mächtig. Der Papst nimmt sich zu viel heraus. Der Papst beschneidet unsere alten verbrieften Rechte. Der Papst mischt sich in unsere Angelegenheiten. Der Papst ist ein Ungeheuer! «, sagten die Männer, die dem Zug zuströmten. Sie sagten es auf Italienisch, sodass Luithard fast nichts davon verstand.
»Hast du keine Angst vor der Hölle?«, fragte er einen der Bewaffneten, die zu ihm gestoßen waren und mit entschlossenen Gesichtern neben ihm ritten. Er hatte lange gebraucht, bis er jemanden gefunden hatte, der Deutsch verstand.
»Angst vor dem Bann?«, fragte der. »Mach dich nicht lächerlich: Welcher Bann denn? Gregor VII.? Der ist doch längst abgesetzt. Vom rechtmäßigen König!«
»Und wenn der Papst gewinnt?«, fragte Luithard vorsichtig.
»Sag das ja nicht laut!«, wurde ihm geraten. »Sie verprügeln dich sonst!«
»Heinrich kommt nach Rom, Ihr müsst fliehen, Herr.«
Papst Gregor VII., auffallend klein, hager, bleich, einfache schwarze Kutte, Gelehrtengesicht, schmale Lippen, unscheinbar bis auf eigenartig brennende schwarze Augen, lächelte: »Fliehen, vor wem?«
»Vor dem Verfluchten, den Ihr abgesetzt habt.«
»Der Papst flieht nicht. Der Papst geht ihm entgegen.«
»Herr! Entgegen? Und wenn er Euch gefangen nimmt, wenn er Euch zwingt, ihn vom Bann zu lösen? Wenn er Euch tötet?«
»Lieber tot als nutzlos leben! Es fällt kein Haar vom Kopf, ohne den Willen Gottes - du weißt das!«
»Er hat ein Heer!«
»Ich habe
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