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Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter

Titel: Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guenther Bentele
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Gott!«
    »Er hat ein großes Heer.«
    »Ich habe die himmlischen Heerscharen.«
    »Er hat die Macht!«
    »Ich habe das Recht!«
    »Sie haben Waffen.«
    »Ich habe die Wahrheit.«
    »Wenn Ihr ihn nun vom Bann lösen würdet -«
    »So wäre das Unrecht.«
    »Wohin also wollt Ihr gehen?«
    Gregor VII. überlegte. Nach einigem Nachdenken sagte er: »Wir gehen zu Markgräfin Mathilde auf ihre Festung Canossa. Da haben wir alle Vorteile - die Festung ist sicher. Und der Weg Heinrichs führt daran vorbei.«
     
    Die Festung Canossa liegt am Nordhang des Apennins; unter ihr stürzen die Hänge hinab in die Täler des Flusses Crostolo und der Enza, sie liegt auf einem schroffen Felsen, der als uneinnehmbar gilt.
     
    Der Papst war in Verlegenheit. Er hatte nach Deutschland gehen wollen, um dort - sobald die Pässe passierbar waren - als Schiedsrichter einen neuen König einzusetzen: Und nun stand Heinrich in Italien! Und mit einem Heer!
    »Soll er den Stellvertreter Gottes angreifen! Dann zeigt er der Welt, dass er verflucht ist«, sagte Gregor zur sorgenvollen Markgräfin.
    Bischöfe, die durch den Bann des Königs ebenfalls im Bann waren, meldeten sich auf der Burg - ebenso Grafen und Ritter. Viele kamen in der Nacht, manche am helllichten Tag. Sie alle befreite er vom Bann. Sein Gesicht leuchtete vor Gnade, und er nahm sie auf in die Anwartschaft auf das Reich Gottes.
    Den König, der Gesandte auf die Burg schickte, befreite er nicht.
    Markgräfin Mathilde beschwor ihn: »Löst den König vom Bann, macht Frieden.«
    »Er soll sich vor dem ganzen Volk unterwerfen und nicht durch Gesandte in der Abgeschlossenheit einer Burg. Dann löse ich ihn - wenn ich will.«
    »Seid großzügig!«
    »Er hat öffentlich gesündigt: Er hat versucht, mich abzusetzen - es ist mein Recht!«
     
    »Wir greifen an!« Das Heer strotzte vor Kampfesmut und Begeisterung. »Der Papst sitzt in der Falle wie eine Ratte.«
    Luithard und seine Kameraden überlegten, wie die Burg am besten zu berennen wäre: Und jeder Pfeil, der mich trifft, schleudert mich in die Hölle!, dachte Luithard.
    »Der Papst ist abgesetzt, mach dir keine Gedanken!«, trösteten ihn seine Kameraden. »Angreifen, was sonst?«, meinte Adelheid von Susa und dachte an die neuen Ländereien.
    »Angreifen!«, sagten die Berater des Königs und dachten an neu zu verteilende Ämter.
    Jeder erwartete in jeder Minute den Angriff.
    Aber der König sagte: »Ich greife nicht an - ich will den Sieg.«
    »Wenn Ihr den Sieg wollt, müsst Ihr angreifen - was denn sonst?«, sagten die Berater und rechneten ihm vor, dass er die Burg leicht einnehmen würde mit seinen vielen Truppen.
    »Vielleicht«, sagte der König, »vielleicht auch nicht; niemand hat die Burg bisher einnehmen können. Und wenn es gelingt: Habe ich den Sieg, nur weil ich eine Burg erobert habe?«
    »Wenn Ihr nicht angreift, müsst Ihr Euch unterwerfen!«, sagten die Berater.
    »Ich unterwerfe mich niemandem, den ich abgesetzt habe.«
     
    Luithard leistete seinen Wachdienst vor dem Zelt des Königs, wie er ihn vor dem Palast des Bischofs von Speyer geleistet hatte.
    Er erwartete den Angriff. Er sah, wie man büschelweise Seile, Pfeile und Pechfackeln nach vorne trug, wie Leitern gezimmert wurden, Brechwerkzeuge, Belagerungsmaschinen, Armbrüste, Schildverhaue.
    Der Befehl, den er erhielt, kam am späten Abend: »Bereithalten am frühen Morgen vor Sonnenaufgang!« Es war ein Befehl des Königs.
     
    Fünf Männer steigen hoch zur Burg, im Dunkel des Morgens - der König, ein Berater, ein Schreiber, Luithard und ein weiterer Bewaffneter.
    Gefrorener Wald. Schutt. Fels. Ungewisses Mondlicht. Ein Graben. Mauern, auf Felsen geklebt. Im Dunkel die Zugbrücke, aufgezogen. Es wird heller. Dann der Blick in die Tiefe - das Heerlager, wie Ameisen die Menschen darin, die eisüberzogenen Berghänge ringsum.
    Die gesenkte Zugbrücke und das gehobene Fallgatter, der dunkle Steinweg, über dessen Pflaster die fünf zu den Wohngebäuden geführt werden.
    »Dort unten ist das Heer, Ihr seht es«, sagte der König zum Papst.
    »Dort oben ist Gott, Ihr spürt es«, sagte der Papst.
    »Reden wir nicht über Absetzung.«
    »Reden wir über Buße und Vergebung.«
    »Warum sollte ich büßen?«
    »Warum sollte ich Euch vergeben?«
    Eine unsichtbare Waage stand über der Burg der Markgräfin. Macht und Ohnmacht. Krieg und Frieden. Aber die beiden mächtigsten Männer der Welt saßen nicht an einem Tisch. Sie sahen sich nicht - so weit war man noch

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