Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter
will ich meine Ruhe haben. Jeden dahergelaufenen Bettler würde ich pflegen bis an mein Ende! Für Euch aber kein halbes Stücklein Brot!« Er zählte ihm an den Fingern jede einzelne Schandtat auf: »Knecht, weg mit dieser Missgeburt, der nicht einmal die Sonne scheint!«
Dann schlug er das Kind, das den Blinden führte: »Weil ich keinen Blinden schlagen will! Macht fort, Ihr Scheusal, Euer Elend schert mich nicht!«
Die Mutter gab ihm ein Stück Brot in die Hand wie einem Kind. Wo er hinkam, schrien die Bauern: »Haha, Helmbrecht, du Dieb, hättest du den Acker bestellt wie ich, müsste man dich jetzt nicht als Blinden herumführen.«
So hatte er noch ein Jahr zu leiden, bis er schließlich aufgehängt wurde.
Ein Bauer beim Holzsammeln sah ihn eines Morgens in aller Frühe, wie er sich mit einem Stab durch den Wald tastete und mühsam Beeren suchte. Diesem Bauern hatte Helmbrecht einst eine stattliche Kuh geraubt.
Der Bauer ging und fragte seine Nachbarn, ob sie ihm helfen wollten.
»Den schlag ich zu Brei!«, sagte der Erste. »Mir und meiner Frau hat er die Kleider vom Leib gerissen - auf den habe ich ein Recht.«
Der Nächste sagte: »Und wenn er drei Leben hätte - ich schlüge ihn jedes Mal wieder tot, diesen Drecksack - er hat mir die ganze Vorratskammer leer gemacht.«
Der dritte Holzsammler zitterte vor Rachgier wie Laub: »Ich zerfetze ihn wie ein Huhn und das mit Recht! Er hat mein schlafendes Kind in einen Sack gestoßen und in den Schnee geworfen, wo es fast erfroren wäre.«
»Wahrhaftig«, schrie der Vierte, »endlich erwische ich ihn - jetzt werde ich mich mit Wonne an ihm rächen: Er hat meine Tochter missbraucht. Und wäre er dreimal so blind - ich hänge ihn an einen Ast! Ich selbst bin ihm mit knapper Not entkommen - splitterfasernackt. Und wäre er ein Riese, so groß wie ein Haus, die Rache würde vollzogen - jetzt, wo er sich im Dickicht dieses Waldes versteckt. «
»Auf ihn!«, schrien sie dann alle zusammen und gebrauchten alle ihre Rechte gegen Helmbrecht.
Zwischen den Schlägen riefen sie ihm zu: »Nun hüte deine Haube, Helmbrecht!«
Was der Scherge an Helmbrechts Haube noch heil gelassen hatte, wurde jetzt zerrissen. Das war eine grässliche Sache: Nicht einmal ein Fetzen so groß wie ein Pfennig blieb ganz.
So ist es wirklich geschehen - das war das Ende der Haube und unserer Geschichte.
Die Sittiche und Lerchen, Sperber und Turteltauben, die auf Helmbrechts Kopfbedeckung gestickt waren, flatterten auf dem Weg herum, hier lag ein Fleck der Haube, dort eine Strähne seines Haares - sein blondes, lockiges Haar lag ausgerissen auf dem Boden, und niemals hat man einen so kahlen, blutigen Kopf gesehen: Da gab es nichts mehr zu bewundern.
Dann ließen sie den Elenden seine Beichte ablegen. Einer hob eine Krume vom Boden auf und gab sie dem armen Sünder zu fressen - gegen das Höllenfeuer. Dann bewahrheitete sich der Traum des Vaters - sie erhenkten ihn an einem Baum.
AUS DER WELT
Burgen waren wichtige Schauplätze mittelalterlicher Kultur in Europa und sie sind für uns heute Zeugen des Lebensgefühls ihrer Bewohner. Es war ein Lebensgefühl zwischen Frömmigkeit und Kampf: Der Grundherr auf der Burg versuchte, seine Macht und seine Einkünfte ständig zu vergrößern. Wurde er dabei schuldig im Sinne christlicher Moralvorstellungen, so konnte er durch gute Werke, das heißt meist durch Geschenke an die Kirche, von Gott Vergebung erlangen.
Wichtig für sein Seelenheil war auch, dass eines seiner Kinder einen geistlichen Beruf einschlug, Priester wurde oder - wenn die Familie sich das leisten konnte - als Mönch oder Nonne in eines der vielen Klöster eintrat, um dort für die Eltern zu beten.
Burgen und Klöster wurden neben den Pfalzen der Könige und Kaiser und den Fürstenhöfen zu Schauplätzen und Zentren kulturellen Geschehens. Wir bezeichnen heute noch gewisse Verhaltensnormen als »höflich« - selbst das Wort »hübsch« bezeichnet ursprünglich etwas, das den Anforderungen eines Ritterhofes, also einer Burg, genügte. An den Burgen und in den Klöstern entwickelten sich die ersten hochrangigen Werke der deutschen Literatur - darüber hinaus gaben die Klöster Zeugnisse antiker Kultur an die Völker Europas weiter: Die Mönche bewahrten die Werke der alten Philosophen und Dichter in ihren klösterlichen Mauern auf, schrieben sie sorgsam ab und sorgten auf diese Weise für deren Überlieferung. Zudem entstand in den Klöstern eine eigene Kultur des Malens, des
Weitere Kostenlose Bücher