Augenzeugen
Lungentuberkulose», fuhr er dann fort. «Die Mutter hatte panische Angst, dass Helmut sich anstecken könnte, und hat ihn nicht mal in die Nähe des Vaters gelassen. Helmut hat seinen Vater nie anfassen dürfen, er ist nie von ihm in die Arme genommen worden, hat nie auf seinem Schoß gesessen. Und die Mutter hat darauf geachtet, dass Helmut leise war, nicht herumtobte, nicht laut lachte, damit der Kranke nicht gestört wurde. Bestimmt hat Helmut sich angestrengt, aber er war eben ein kleiner Junge, beim Tod des Vaters erst vier Jahre alt, und er konnte nicht perfekt sein. Ich bin sicher, er hatte Schuldgefühle, als der Vater starb, und ich bin mir ebenfalls sicher, dass die Mutter ihm die nicht genommen hat, eher im Gegenteil.»
Astrid schluckte. «Woher weißt du das alles? Wieso hat er dir das alles erzählt und mir nicht?»
Arend Bonhoeffer strich ihr beschwichtigend über die Hand. «Wir haben so manche Nacht durchgezecht, als wir noch jung waren, da wird die Zunge schon mal locker. Und du darfst nicht vergessen, dass seine Mutter damals noch war und ihm das Leben schwer machte, das musste er irgendwo loswerden. Die Frau war ein wandelnder Vorwurf. Natürlich hatte sie hart arbeiten müssen, um sich und das Kind durchzubringen und Helmuts Ausbildung zu finanzieren, aber das hat sie ihren Sohn auch spüren lassen, immer.»
Astrid kämpfte mit den Tränen.
Bonhoeffer bückte sich zum Feuer und legte ein paar Holzscheite nach. «Helmut hat sich nie geliebt gefühlt.» Er drehte sich zu Astrid um. «Er hält sich nicht für liebenswert, und deshalb mag er auch nicht glauben, dass du ihn liebst.»
Sie schüttelte heftig den Kopf. «Wir sind seit über sieben Jahren zusammen, Arend, und die ganze Zeit ist es gut gegangen.»
«In der Wohngemeinschaft, sicher.» Er kam zum Tisch zurück und setzte sich wieder. «Da waren genug Leute da, die sich um dich kümmerten, die dich gern hatten, dir Geborgenheit gaben. Ich denke, so hat Helmut das empfunden. Und jetzt hat er das Gefühl, dass er ganz allein für dein Glück verantwortlich ist.»
«Das ist doch hirnrissig!»
«Natürlich ist das hirnrissig.»
Sie kaute auf ihrem Daumennagel herum. «Du meinst, er ist davon überzeugt, dass ich ihn eines Tages sowieso verlasse, und deshalb zieht er sich vorsichtshalber schon mal von mir zurück, damit es dann nicht so wehtut?»
«Das ist eine Möglichkeit. Oder aber er treibt dich mit seinem Verhalten so weit, dass du es nicht mehr aushältst und gehst, und damit wird er in seiner Überzeugung bestätigt: Man liebt mich nicht, weil ich es nicht wert bin.»
«Aber das ist krank, Arend», schluchzte sie auf.
Er griff nach ihrer Hand, aber sie merkte es gar nicht, starrte ins Leere. «Deshalb verhält er sich auch so paradox mit Katharina», murmelte sie. «Einerseits klammert er und andererseits …»
«Ich habe mich gewundert, dass Helmut sich überhaupt so eine enge Bindung an Katharina gestattet hat», meinte Bonhoeffer. «Zu seinen Söhnen hat er erst gar keine Beziehung aufgebaut, die hat er nur versorgt. Deshalb habe ich auch gedacht, er hätte sich endlich in den Griff gekriegt.»
Astrid biss sich auf die Lippen. «Jetzt kapier ich auch, warum er den Escherfall unbedingt lösen will.» Sie erzählte von der Entführung und von Toppes Besessenheit. «Ich hatte immer das Gefühl, er sieht in dem kleinen Mädchen seine eigene Tochter.»
Bonhoeffer ging, um eine neue Flasche Wein zu holen. Als er zurückkehrte, saß Astrid mit geschlossenen Augen da. «Ich bin auf einmal todmüde.»
«Du kannst gern bleiben, ich richte dir das Gästezimmer.»
«Das ist lieb, danke. Aber Weglaufen bringt’s wohl nicht. Außerdem will er ja anscheinend genau das erreichen. Den Teufel werd ich tun!»
Bonhoeffer lächelte.
Achtzehn
Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie tief geschlafen, sie wusste nicht, was sie geträumt hatte.
Als sie beim Frühstück saßen, horchte sie in sich hinein. Helmut dachte, sie wäre gestern Abend reiten gewesen, sie ließ ihn in dem Glauben, auch wenn es ihr wie Betrug vorkam, aber sie brauchte Zeit. Im Augenblick wusste sie nicht, wie es mit ihnen weitergehen sollte, ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie wollte, dass es mit ihnen weiterging. Sie beobachtete ihn, wie er Katharina ein Brot strich, er mimte den Anwesenden, saß aber nach wie vor unter seiner Glasglocke.
Sie richtete sich auf. Zuallererst würde sie mit Peter und Norbert den Fall abschließen, danach sah man weiter.
Es
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