Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
die Energie aufzusaugen, doch nach einer Weile spüre ich ein Kribbeln in meinem ganzen Körper. Ich konzentriere es auf meine Finger. Mit beiden Händen fasse ich nach oben, taste nach Reis Gesicht und fühle seine Schläfen. Unter meinen Fingerspitzen fühle ich, dass er lächelt.
Ich gebe ihm nach und nach die Energie, bis er sagt: »Du hast es geschafft.«
Ich öffne meine Augen. »Sind deine Kopfschmerzen weg?«
»Sie sind verschwunden, Anna. Wir müssen meiner Mutter sagen, dass du das kannst.«
»Ich will im Moment nicht an deine Mutter denken.« Ich beginne wieder zu laufen. »Wohin sollen wir gehen?«
»Wohin wohl?«, fragt Rei. »Zum Wasserfall.«
Der Wasserfall ist der allerletzte Ort, an dem ich im Moment sein möchte. Ich glaube, Rei weiß das ganz genau. Aber er ist der Ansicht, dass man sich seinen Ängsten stellen soll, und er hat recht. Ich kann den Wasserfall nicht ewig meiden. Ich kann es nicht zulassen, dass Taylor so viel Macht über mich gewinnt.
»Jetzt, wo Taylor weg ist, müssen wir darüber nachdenken, was du dem Staatsanwalt sagst«, bemerkt Rei, als wir den Weg entlanggehen. Komischerweise sind die Bäume immer noch von einem leichten blauen Schimmer umgeben, und als Rei in das Sonnenlicht tritt, sehe ich, dass er von einer sanften orangen Aura umgeben ist.
»Wie wäre es, wenn ich ihm die Wahrheit sage?« Ich sage das nur halb im Scherz. Im schlimmsten Fall würde er denken, dass ich verrückt bin, und ich glaube nicht, dass sie Verrückte in den Zeugenstand rufen.
»Wir könnten dich auch gleich einweisen lassen.«
»Hey, es gibt sogar Menschen, die sich astral projizieren und darüber Bücher schreiben, und keiner sperrt
sie
ein. Habe ich dir schon gesagt, dass ich mich sichtbar gemacht habe, als der Staatsanwalt Taylor befragt hat?«
Rei braucht eine Weile, bis er versteht, was ich gerade gesagt habe. Drei … zwei … eins.
Ich liebe es, wenn Rei so ungläubig schaut: Seine Augen werdengroß und sein Mund steht weit offen wie bei einem Fisch. »Du hast
was
?«
»Du hast mich schon verstanden.«
»Anna. Warum? Warum nur?«
»Sieh es mal so: Er kann es doch sowieso niemandem erzählen. Sie würden denken, dass er verrückt ist. Und wenn ich ihm die Wahrheit sage, glaubt er mir vielleicht. Was auch immer passiert, jetzt müssen sie Seth laufen lassen, schließlich haben sie ihre wichtigste Zeugin verloren.«
»Theoretisch hast du recht. Aber du weißt: Nichts ist jemals einfach.«
»Oh, du Ungläubiger.«
»Anna«, er streckt den Arm aus und nimmt meine Hand. »Wir brauchen einen guten Plan, bevor du etwas … Impulsives machst.«
»Impulsiv?« Ich drücke seine Hand, bevor ich loslasse. »Du meinst, bevor ich etwas Dummes mache.«
»Nein, ich meine etwas Impulsives. Wir müssen an Seth denken.«
»Ich denke an Seth.«
Als wir den Felsvorsprung erreichen, höre ich das Tosen des Wassers. Ich mache ein paar Schritte nach vorne und schließe die Augen. Ich muss all meine Sinne langsam an den Wasserfall gewöhnen.
»Geht es dir gut?«, fragt Rei, als er hinter mich tritt. Seine Hand berührt die Stelle an meinem Nacken, die nur für ihn reserviert ist.
Ich nicke. Mir geht es gut. Ich brauche nur Zeit. Als ich meine Augen öffne, sehe ich als Erstes das Graffiti. Ein paar Idiotenhaben in großen, roten Buchstaben eine Beileidsbekundung für Taylor auf den Steinen beim Wasserfall hinterlassen. »Mein Gott … «, sage ich entnervt. »Was für hirnlose Trottel!«
Ich trete an den Rand, um zu sehen, was sie angerichtet haben. Rei folgt mir auf Schritt und Tritt. Als ich drei Schritte vor dem Abgrund stehe, legt er einen Arm um meine Hüfte.
»Das ist nah genug.«
»Rei, ich will nur … «
»Nah genug«, sagt er bestimmt. Er legt seinen anderen Arm um meine Hüfte und zieht mich zu sich. Dann stützt er sein Kinn auf meinen Kopf. »Also, was denkst du?«
Was ich denke? Wie kann er erwarten, dass ich auch nur einen Gedanken fassen kann, wenn er mich so fest an sich drückt? Ich fühle mich, als würde ich schmelzen.
»Anna?«
»Hmm? Oh. Warum sind wir noch mal hier?«
»Um herauszufinden, was du dem Staatsanwalt sagen kannst.«
»Ach ja, stimmt.«
Ich sehe mich um und denke an die Ereignisse der letzten Woche. Ich erzähle Rei nach und nach, was passiert ist. Als meine Erzählung den Punkt erreicht, an dem Taylor in den Abgrund stürzt, hält mich Rei noch fester umschlungen. Ich glaube fast, er hat Angst, dass auch ein Teil von mir in den Abgrund stürzen
Weitere Kostenlose Bücher