Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
Aufbahrungshalle, das Foyer und die Veranda sind mit mindestens zweihundert Menschen gefüllt. Sie stehen in kleinen Gruppen zusammen und flüstern verstohlen miteinander.
Was die sich wohl alles erzählen?
Ich verlasse meinen Ehrenplatz auf dem Sarg, gehe zwischen den Menschen hin und her und lausche. Die meisten reden sehr leise miteinander, also muss ich mich ziemlich nah an sie herandrängen, damit ich etwas verstehen kann. Sie scheinen meine Anwesenheit zu bemerken, und ich glaube, viele fühlen sich in meiner Gegenwart unwohl. Einige zittern, als ich ihnen zu nahe komme. Andere hören kurz auf zu reden und sehen sich misstrauisch um. Wieder andere gehen einen Schritt zurück. Ich versuche es nicht persönlich zu nehmen. Leichenhallen sind nun einmal ein bisschen unheimlich.
Die meisten Unterhaltungen drehen sich um Gerüchte über Seth und Taylor. Ich höre, wie einige Seth verteidigen. Die meisten behalten Rei und Taylors Eltern im Blick, damit sierechtzeitig verstummen können. Aber Rei steht nach wie vor bei seiner Gruppe und redet über Wrestling.
Um circa sieben Uhr sehe ich Taylor in der Tür stehen. Auf ihrem Weg zum Sarg sieht sie aus wie Cinderella auf dem Ball. Rei entdeckt sie und lässt sie nicht mehr aus den Augen. Zwei Meter vor dem Sarg bleibt sie stehen und bricht in dramatisches Schluchzen aus.
Jede Unterhaltung verstummt. Alle starren auf Annaliese Rogan und werden Zeuge, wie sie sich vor der ganzen Schule zum Idioten macht.
Rei und Callie entschuldigen sich und laufen zu Taylor.
»Anna?«, fragt Callie unsicher. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich kümmere mich um sie, Callie«, sagt Rei. Er nimmt Taylor am Arm und führt sie weg. Offensichtlich versucht er noch den letzten Rest meiner Würde zu bewahren. Danke, Rei! Er redet mit leiser und eindringlicher Stimme auf sie ein und führt sie ins Foyer. »Du musst das nicht machen. Soll ich dich nach Hause bringen?«
Taylor schüttelt den Kopf und schluchzt.
Rei zieht ein paar Tücher aus einer der Papierboxen, die hier überall herumstehen, und versucht sie ihr zu geben. »Komm schon, ich bring dich nach Hause, in Ordnung?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein! Ich will meine … Taylors Eltern sehen.« Endlich nimmt sie die Taschentücher aus Reis Hand und wischt sich die schwarzen Tränen ab. »Ich bin gleich zurück«, schnieft sie und geht zur Damentoilette.
Rei sitzt alleine auf der Couch, trommelt mit den Fingern auf seinen Knien herum und wartet.
Als Taylor endlich herauskommt, sind die schwarzen Schlierenverschwunden und ihr Gesicht ist entspannter. »Ich gehe jetzt rein«, teilt sie ihm ganz sachlich mit. »Wenn du mich danach immer noch nach Hause fahren willst, bitte.«
»Ich komme mit dir«, bietet Rei ihr an.
»Mach, was du willst.« Sie wirft ihr Haar zurück, geht langsam zum Sarg und kniet auf dem Gebetsschemel nieder. Es ist offensichtlich, wie viel Überwindung es sie kostet, ruhig zu bleiben. Und trotz allem, was geschehen ist, habe ich Mitleid mit ihr. Es ist schlimm genug, mich selbst herumlaufen zu sehen, aber ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie es sein muss, sich selbst tot in einem Sarg liegen zu sehen.
Sie streckt vorsichtig die Hand aus, um ihre eigene tote Hand zu berühren, zuckt dann aber im letzten Moment zurück. Einige zittrige Atemzüge später steht sie auf und geht zu ihren Eltern.
»Mr. Gleason? Ich bin Annaliese Rogan.« Sie reicht ihm die Hand. Er scheint sich an meinen Namen zu erinnern.
»Du bist das Mädchen, das Taylors Ermordung gesehen hat!«, ruft er aus und hält ihre Hand fest in seiner.
»Ja, das stimmt.« Taylors Stimme bricht. Alle anderen Stimmen werden zu einem leisen Murmeln, und es klingt, als ob jemand Taylor ein Mikrofon gegeben hätte. »Und sobald sie dieses Monster Seth Murphy finden, werde ich da sein und vor Gericht gegen ihn aussagen, damit er keinem mehr wehtun kann!«
Reis Gesicht bleibt vollkommen ruhig, aber seine Aura nimmt die Farbe von rohem Steak an. Taylor scheint überhaupt nicht zu bemerken, dass alle zuhören. »Es tut mir sooo leid.« Tränen laufen ihre Wangen herunter. Taylors Mutter umarmt sie.
»Vielen Dank, Annaliese«, murmelt sie. Taylor klammert sich an ihre Mutter und schluchzt. Ihr kleiner Bruder starrt sie an, als ob ihr ein Geweih gewachsen wäre.
Nach einigen merkwürdigen Sekunden tritt Rei neben sie und packt Taylor am Arm. »Okay, Anna«, sagt er mit kühler Stimme. »Es gibt noch andere Menschen, die darauf warten, ihr
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