Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
noch rum?« Sie nimmt die Wimperntusche in ihre geballte Faust. »Ich dachte, du hättest mittlerweile eine bessere Beschäftigung gefunden.« Sie sieht in den Spiegel und reißt die Augen weit auf, um sich die Wimpern zu tuschen.
Meine
Wimpern. »Deine Mum ist sooo süß. Hast du all die tollen Sachen gesehen, die sie mir gekauft hat? Ichmusste nicht einmal etwas von deinem Geld ausgeben. Was ich übrigens gefunden habe.«
Toll … Ich habe es geschafft, beim Babysitten in Yumis Laden beinahe fünfhundert Dollar zu sparen. Und jetzt ist das Geld in den Händen von Taylor Gleason.
Tusch, tusch
. Ich ramme gegen ihren Arm und sie stößt sich den Stift ins Auge. »Aua! Du kleine … « Sie greift nach einem Tuch vom Bücherregal und tupft damit die großen, schwarzen Tränen ab. »Du kannst so die Netzhaut von jemandem verletzen, weißt du.«
Ja, klar.
Meine
Netzhaut. Ich werfe ihr Rouge auf den Boden und freue mich teuflisch, als ich sehe, wie es zerbröselt.
»Hör sofort auf!«, zischt sie. Ich rolle nach und nach den Eyeliner, ein Fläschchen mit Make-up, einen Puderpinsel, Lidschatten und einen kleinen Parfümflakon von der Kommode auf den Boden. Der Parfümflakon trifft sie am Kopf, während sie gerade am Boden kniet und die anderen Sachen aufhebt.
»
HÖR AUF
!«, befiehlt sie mir.
Auf der Kommode liegt ohnehin nichts mehr, das ich herunterwerfen könnte.
Es klopft an der Tür und meine Mutter steckt den Kopf herein – ein erwartungsvolles Lächeln auf dem Gesicht.
»Hast du mich gerade gerufen, Liebling?«, fragt sie.
»Nein, Mum. Ich habe nur mit mir selbst geredet«, sagt Taylor mit süßlicher Stimme. Sobald sich die Tür wieder schließt, sieht sie sich um. »Geh weg, Anna«, sagt sie mit kalter, ruhiger Stimme. »Du lebst hier nicht mehr. Tatsächlich
lebst
du einfach nicht mehr. Finde dich damit ab.«
18
McGregor & Sons
ist das einzige Bestattungsunternehmen in Byers. Es liegt ein bisschen entfernt von der Hauptstraße, umgeben von einer großen Einfahrt und zwei Parkplätzen. Es ist ein großes, weißes Haus mit schwarzen Fensterläden und einer Vorhalle im Queen-Anne-Stil. Auf der großen Veranda des Hauses stehen Schaukelstühle und Aschenbecher, die aussehen wie Flaschengeist-Behälter. Mr. und Mrs. McGregor leben im ersten Stock, zusammen mit ihren beiden Söhnen, die zwar noch im Grundschulalter sind, aber offensichtlich einmal in ihre Fußstapfen treten sollen. Ein bisschen abseits vom Haus liegt eine kunstvoll verzierte Garage für drei Autos, und dahinter, außerhalb des Sichtfelds, entdecke ich den Raum, in dem die Leichen einbalsamiert werden.
Ich zwinge mich dazu hineinzugehen.
Es riecht grauenhaft: ein Cocktail aus starken Chemikalien und verrottendem Fleisch. Aber keine Leichen. Nicht auf dem Tisch und auch nicht im Kühllager.
Im Haupthaus ist es unheimlich ruhig. Nur das Surren eines Computers aus einem angrenzenden Büro durchbricht die Stille in dem riesigen Trauerraum, der fast das gesamte Untergeschoss einnimmt.
Und hier finde ich auch den toten Körper. Als ich Taylors Leiche das letzte Mal gesehen habe, hing sie an einem Birkenzweig. Hungrige Tiere hatten Stückchen aus ihr herausgepicktund sie war vom Wasser aufgedunsen und bläulich angelaufen. Der Bestatter muss ein Zauberer sein, denn jetzt liegt sie hier in ihrem hochgeschlossenen langärmeligen blauen Kleid und sieht aus, als wäre sie friedlich im Schlaf gestorben und nicht gegen ein Dutzend Felsbrocken geschleudert worden.
Sie sieht aus, als bestünde sie aus Wachs. Ich habe schon den Leichnam von drei meiner Großeltern gesehen und weiß, das ist normal. Ich weiß auch, dass man nur lange genug auf den Brustkorb schauen muss, um fest überzeugt zu sein, dass der Mensch noch atmet. Es ist ziemlich unheimlich. Taylor hat eine dicke Schicht Puder auf dem Gesicht, und wenn man genau hinschaut, sieht man kleine Puderkörnchen an ihren Nasenhaaren hängen. Ansonsten hat der Bestatter viel zurückhaltender in den Schminktopf gegriffen als Taylor zu Lebzeiten. Rosa Rouge liegt auf ihren Wangen und ein natürlich aussehender Lippenstift ersetzt ihren burgunderfarbenen Lipgloss. Sie trägt keinen Eyeliner. Ihre sonst langen Fingernägel sind jetzt kurz und in einem blassen Pink angemalt. Die Hände liegen gefaltet über ihrem Bauch und halten eine lila Rose. Der Bestatter hat die tiefe Wunde an Taylors Ohr mit einer beigen Paste gefüllt und darauf geachtet, sie so zu legen, dass sie für die Trauernden nicht
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