Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
sichtbar ist. Außerdem hat er ihren Kopf leicht zur Seite gedreht. Sie sieht tragisch schön aus, wie sie hier so absolut leblos liegt.
Aber ich weiß es besser. Ich lasse mich auf dem Sarg neben einem Gesteck intensiv duftender Lilien nieder, schlage die Beine übereinander und warte auf die Trauergäste. Da Taylor davon überzeugt ist, dass ich diejenige bin, die nicht mehr am Leben ist, ist das wohl der angebrachte Platz für mich.
Um fünf Uhr dreißig kommen Taylors Eltern und ihr kleiner Bruder. Ihre Aura der Trauer variiert in vielen verschiedenen Schattierungen. Ihr Bruder muss um die elf Jahre alt sein. Er fühlt sich in seinem blauen Anzug, gestärktem weißen Hemd, Krawatte und braunen Anzugschuhen sichtlich unwohl. Er starrt Taylors Körper an, als würde sie jeden Moment von den Toten erwachen und ihn aufessen. Taylors Vater hat tote Augen. Er kniet sich neben ihrem Körper nieder, sagt ihr, wie sehr er sie liebt, und verspricht ihr, den kleinen Bastard zu finden, der das getan hat, und sie zu rächen. Die Augen ihrer Mutter kann ich vor lauter Tränen nicht sehen. Als sie sich über Taylor beugt und sie auf die Wange küsst, fallen sie auf den Satinbezug des Sargs. Ich seufze. Hier bin ich – offensichtlich auch nicht mehr am Leben, und meine Mutter könnte nicht glücklicher darüber sein.
Um Punkt sechs Uhr öffnet der Bestatter die Tür und mehr und mehr Trauergäste strömen in den Raum. Taylors Freundinnen stehen ganz vorne. Offensichtlich haben sie sich darüber beraten, was ein gut angezogener Teenager zu einer Trauerfeier anziehen sollte – Schwarz, Schwarz und noch mehr Schwarz. Sie schluchzen und stützen sich gegenseitig, während sie darauf warten, bis sie an der Reihe sind, auf dem Gebetsschemel vor dem Sarg niederzuknien. Ich winke ihnen zu, nenne sie beim Namen und sage ihnen, dass sie ihre schwarzen Sonnenbrillen ruhig abnehmen können. Aber natürlich kann mich keiner hören oder sehen.
Als sie durch die Reihe der Trauergäste zurückgehen, sehe ich, wie die Mädchen zusammen mit Taylors Mutter Tränen vergießen, Taylors Vater die Hand schütteln und ihren kleinenBruder auf die Wange küssen. Dabei hinterlassen sie eine Sammlung von Lippenstiftabdrücken. Ich finde es seltsam, dass der Junge sich nicht wehrt, bis ich bemerke, dass er in ihre tief ausgeschnittenen T-Shirts schielt, während sie sich zu ihm hinunterbücken. Als sie an allen vorbeigegangen sind, rücken die Mädchen ihre Stühle zusammen und setzen sich in einen engen Kreis. Sie schmiegen sich aneinander wie ein Hexenzirkel und das Tuscheln beginnt.
Teri und Lisa kommen gemeinsam. Sie sehen besorgt aus. Teri hat offensichtlich noch nie zuvor eine Leiche gesehen und hat Angst davor, an den Sarg heranzutreten. Lisa wirkt erleichtert, als sie es hinter sich gebracht haben und sich mit ihren Freunden unterhalten können. Callie kommt kurz darauf. Sie ist dem Anlass entsprechend gekleidet und trägt eine schwarze Hose und eine aquamarinblaue Bluse, die sehr gut zu ihrer olivfarbenen Haut passt. Nachdem sie sich vor dem Sarg niedergekniet und Taylors Familie ihr Beileid ausgesprochen hat, redet sie mit dem Rest des Schwimmteams.
Jeder einzelne Schüler und Lehrer aus Byers vom Westover Gymnasium scheint hier zu sein. Von meinem Platz aus beobachte ich ihren Ausdruck, als sie vor dem Sarg niederknien und so tun, als würden sie für Taylors Seele beten. Was sie in Wirklichkeit machen, ist offensichtlich: Sie studieren ihr Gesicht und suchen nach der schweren Kopfverletzung. Gerüchten zufolge soll sie so tief gewesen sein, dass man ihr Gehirn sehen kann.
»Sie ist hier auf der Seite«, sage ich und zeige auf die Stelle. Für eine kurze Sekunde überlege ich, ob ich mich sichtbar machen soll. Nur aus Spaß, um die Reaktion der Leute um michherum zu sehen. Aber dann entscheide ich, dass es eine dämliche Idee ist. Was würde es beweisen? Ich habe das Gefühl, dass Taylor genug Aufmerksamkeit auf mein Leben lenken wird.
Rei kommt um sechs Uhr dreißig. Er trägt eine beige Chino-Hose und ein frisches weißes Polo-Shirt. Seine Haare sind nass und ordentlich aus dem Gesicht gekämmt, was seine Augen noch dunkler und intensiver wirken lässt. Er schaut sich um, sieht Callie und winkt ihr zu. Dann entdeckt er ein paar von Seths Wrestling-Kumpels und beschließt, zu ihnen zu gehen anstatt zum Sarg oder zu Taylors Familie. Ich kann es ihm nicht übel nehmen. Die Empfangsreihe geht mittlerweile bis vor die Tür und die
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