Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
Shoppingcenter, Mum in ihren High Heels und Taylor in meinen Clogs. Gemeinsam gehen sie in
Nadias Nagelboutique
. Mein Nägelkauen war meiner Mutter seit Jahren ein Dorn im Auge. Jetzt ist sie hellauf begeistert, dass ich mich endlich für künstliche Nägelinteressiere. Mich haut der chemische Geruch fast um. Bevor ich gehe, höre ich, wie Taylor das Mädchen in dem weißen Mantel nach den extra langen Nägeln fragt. Großartig!
Im Hinterzimmer des Ladens seiner Eltern faltet Rei Pappkartons zusammen und stapelt sie. Er hat die Kopfhörer von seinem iPod in den Ohren und teilt seine Aufmerksamkeit zwischen der Musik und den Kartons. Als ich auftauche, zuckt er vor Schreck zusammen.
»Anna!« Er reißt sich einen Ohrstöpsel heraus und schaut sich nach seinen Eltern um, aber ich habe schon nachgesehen – sie sind vorne im Laden und kümmern sich um die Kunden. »Könntest du mich das nächste Mal vorwarnen?« Ich zeige auf seine Hosentasche mit dem Handy.
»Du willst mein Handy?«
Ich nicke.
»Warum?«, fragt er, als er das Handy herauszieht und es mir mit einem irritierten Blick hinhält.
Weißt du, was?
, tippe ich.
»Oh … okay, was?«
Ich bekomme künstliche Nägel – extra lange.
Rei grinst. »Oh nein!«
Ich sehe ihn an.
Meine Mum mag lieber mit Taylor shoppen gehen, als mit mir zusammen zu sein.
»Nein, das stimmt nicht«, versichert er mir. Aber wir beide wissen, dass es stimmt.
»Taylor mag einfach nur das ganze trendige Zeug, das deiner Mum auch gefällt. Hoffentlich behalten sie die Quittungen.«
SMS schreiben ist schwer.
Sogar mit Rei und seiner Mega-Energiein der Nähe ist simsen wahnsinnig anstrengend. Ich schleppe mich zu einem Stapel leerer Kartons und schmolle. »Ich habe endlich mit Matt geredet und ihm gesagt, dass er mich anrufen soll, wenn Seth auftaucht«, sagt Rei zu dem Kartonstapel. »Ich muss noch ein paar Dinge erledigen und dann gehe ich nach Hause. Du wirst doch wohl nicht in diesem Aufzug zu der Trauerfeier gehen, oder?«
Ich nehme all meine Energie zusammen und werfe einen Stapel Kartons um. Er lacht, was mich noch mehr verärgert. »Okay, das habe ich verdient. Kannst du nachsehen, was Seth macht, und mich in ungefähr einer Stunde bei mir zu Hause treffen?«
Ich nicke und löse mich vor ihm in nichts auf. Ich habe sowieso immer wieder nach Seth gesehen. Wie ein Roboter strampelt er weiter, umhüllt von einer grauen Wolke. Es sieht aus, als würde ihn seine eigene persönliche Regenwolke umgeben. Vor ihm wird die Straße kurvig und steigt an. Der Betonbelag ist rissig und aufgebrochen vom langen, frostigen Winter.
Vor einer Woche wusste Seth noch ziemlich genau, was er mit seinem Leben anstellen wollte. Ich glaube, er hatte ziemlich bodenständige Vorstellungen: Vielleicht zur Technischen Hochschule gehen, einen Job bekommen, der irgendetwas mit Autos zu tun hat, mit der Tatsache zurechtkommen, dass seine Mutter ihn verlassen hat, und erkennen, dass nicht alle Frauen selbstsüchtig und verletzend sind. Jetzt hat er keine Ahnung, ob er um die nächste Kurve kommt, ohne verhaftet zu werden. Und vielleicht hat Seth recht: Wenn er nicht versucht hätte, Taylor zu helfen, würden die Dinge für ihn besser stehen. Vielleicht wäre er immer noch ein Verdächtiger, aber es gäbekeine Beweismittel gegen ihn. Aber auch dann würde Taylor sich immer noch als Annaliese Rogan ausgeben, die einzige Augenzeugin.
Es hängt alles von mir ab.
Dieser Gedanke verbessert meine Laune nicht gerade. Ich reiße mich nicht darum, Verantwortung zu tragen, und ich hasse es, Menschen leiden zu sehen. Als Rei nach Hause kommt, winken wir uns zu. Er geht sofort unter die Dusche. Ich hinterlasse Rei eine Nachricht auf seinem Computer. Er kann sie lesen, wenn er zurückkommt. Ich will nicht, dass der Duft seiner Zitronenseife meine schlechte Laune verwässert.
Ich gehe zu Taylor und ihren dämlichen neuen Fingernägeln. Bis heute Nacht.
Taylor steht vor meiner Kommode. Sie sieht in meinen pinken Vergrößerungsspiegel und trägt Rouge auf. In ihrer Nase steckt ein glitzernder Diamantnasenring, der vorher noch nicht da war. Sie muss also wohl den Segen meiner Mum dazu gehabt haben. Was hat sich die gute Frau nur dabei gedacht? Zu meinem eigenen kindlichen Vergnügen werfe ich die Mascara von der Kommode. Sie bückt sich, nimmt sie vorsichtig zwischen ihre extra langen knallroten Fingernägel und legt sie auf die Kommode zurück. Dann sieht sie sich misstrauisch um.
»Du hängst hier also immer
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