Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)

sich über eineinhalb Kilometer in jede Richtung. Das Licht dringt durch die hohen Pinien und wirft sanfte Schatten. Die Vögel sind erwacht und singen ihr Morgenlied und im Unterholz rascheln Eichhörnchen und Streifenhörnchen. Jeder Baum und jeder Busch, jeder Grashalm und Moosfleck ist lebendig und von einem sanften, ruhigen Blau umgeben. Es ist die Aura des Friedens. Alles in der Natur ist in perfekter Harmonie aufeinander abgestimmt.
    Sogar ich. Obwohl ich keinen Körper und keinen Plan habe, gönne ich mir einen perfekten, sorglosen Moment und das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, von etwas Ewigem, Allgegenwärtigem und Hoffnungsvollem, von etwas Wichtigerem als Plänen und Körpern. Von etwas Positivem. Die Äste der Bäume bewegen sich, obwohl kein Wind weht.
    Und dann verwandelt sich das Blau in einen silbernen Schimmer, und von irgendwo dort oben verschmelzen die Farben zu einem hellen Lichtbündel, das zu mir hinunterscheint.
    Meine erste Reaktion ist wegzurennen, aber ich bin zu gebannt von der Erscheinung. Ist das etwa das Licht? DAS Licht? Das gleiche, das ich in dem Altersheim gesehen habe und das den Toten erscheint? Aber warum erscheint es im Wald? Soll das ein Hinweis sein, dass ich, weil ich meinen Körper verloren habe, jetzt zu der großen himmlischen Party eingeladen bin?
    Ich habe keine Zeit dafür. Ich muss Seth finden.
    Ich fühle mich, als würde ich Gott ins Gesicht spucken. »Danke«, sage ich zu dem Licht, denn offensichtlich hat es irgendetwas Göttliches an sich, und ich will nicht undankbar erscheinen, »aber ich muss Seth finden, bevor ich von hier weggehe.«
    Das Licht scheint mir nicht böse zu sein. Es schimmert in verschiedenen Farbvarianten, und es sieht aus, als würde lauter Glitzer in dem Lichtstrahl umherfliegen. Dann verschwindet es nach oben und wird in den Himmel gesaugt. Es folgt eine vollkommene Stille, unterbrochen von einer einzigen Vibration …
    Endlich spüre ich Seths Energiemuster, und es zeigt wie ein Pfeil ganz klar in die Richtung, in die ich gehen muss. Ichweiß, dass das kein Zufall ist. Ich flüstere noch einmal
Danke
und folge der Vibration zu einer riesigen, umgefallenen Pinie, deren Wurzeln sich in den Himmel recken. Seth schläft auf dem matschigen Boden, versteckt unter einer Decke aus trockenen brauen Piniennadeln. Er ist vollkommen nass und dreckig und riecht wie gekochter Kohl. Aber er lebt!

21
    Jaaa! Ich mache vor Freude einen Salto in der Luft! Ich bin so froh, dass ich Seth endlich gefunden habe, und ich kann es gar nicht abwarten, es Rei zu berichten! Ich konzentriere mich auf Reis mir so vertraute ruhige, gleichmäßige Vibration und bin in Null Komma nichts bei ihm. Zu spät bemerke ich, dass Rei nass und eingeseift ist und … oh Gott!
    Ich höre, wie er japanische Schimpfwörter von sich gibt, gefolgt von meinem Namen, als ich blitzschnell in den Flur schwebe. Ich habe gar nichts gesehen, ich schwöre es! Aber das kann Rei natürlich nicht ahnen. Alles, was er weiß, ist, dass Hurrikan Anna ihn in der Dusche überrascht hat, als er nur von Seifenblasen verhüllt war. Verdammt! Ich hätte es besser wissen sollen. Ich meine: Das ist Rei! Ein nuklearer Sprengkopf könnte direkt auf Vermont gerichtet sein, und er würde »nur schnell eine kurze Dusche nehmen«, bevor er einschlägt. Ich warte vor dem Raum, auf dem DUSCHE steht. Im Flur ist es jetzt totenstill. Jeder scheint nach der wilden Partynacht zu schlafen.
    Ich weiß, dass Rei jetzt wütend ist. Aber ehrlich, ich habe nichts unterhalb seiner Brust gesehen. Außerdem weiß er ganz genau, dass ich ihn nie heimlich beobachten würde, während er duscht. Ich überlege, wie ich mich fühlen würde, wenn die Situation umgekehrt wäre … ich würde mich sicherlich schämen. Aber er ist ein Typ. Duschen Männer nicht immer gemeinsam?Und schließlich haben Rei und ich uns schon öfter nackt gesehen. Das erste Mal, dass Rei seine Hüllen vor mir fallen gelassen hat, war in Reis Haus. Wir hatten uns über und über eingesaut und Yumi steckte uns gemeinsam in die Badewanne und duschte uns ab. Gut, wir waren damals nicht älter als drei Jahre. Offensichtlich hat sich seitdem vieles verändert.
    Die Tür öffnet sich und Rei kommt heraus – er ist sauber, aber sehr aufgebracht.
    »Klopf das nächste Mal gefälligst an!«, knurrt er. Ich entschuldige mich aufrichtig, so gut das wortlos möglich ist, und winke ihn in die Dusche zurück. Ich hoffe wirklich, dass dort nicht noch mehr nackte