Aurora
sich niemand ausdenken.«
»Schon gut. Kein Grund zur Aufregung. Und wo ist dieses Notizbuch jetzt?«
»Also, da fangen die Komplikationen an.« Suworin zauderte. Es widerstrebte ihm, dem alten Burschen die gute Laune zu verderben. »Deshalb wollte ich noch mit Ihnen sprechen. Offenbar hat sie es diesem Historiker Kelso gezeigt. Und ihrer Aussage zufolge hat er es mitgenommen.«
»Wohin?«
»Nach Archangelsk. Er will die Frau finden, die es geschrieben hat, diese Anna Safanowa.«
Arsenjew zupfte unruhig an seinem Doppelkinn. »Wann hat er sich auf den Weg gemacht?«
»Gestern nachmittag, zwischen vier und fünf. An die genaue Zeit konnte sie sich nicht erinnern.«
»Wie?«
»Mit dem Auto.«
»Mit dem Auto? Dann ist ja alles in Ordnung. Sie holen ihn leicht ein. Wenn Sie landen, sind Sie nur ein paar Stunden hinter ihm zurück. Dort oben ist er nur eine Ratte in einer Falle.«
»Leider ist er nicht allein. Er hat einen Journalisten bei sich. O’Brian. Den kennen Sie vielleicht. Er ist Korrespondent bei diesem Satelliten-Fernsehsender.«
»Ah.« Arsenjew schob die Unterlippe vor und zupfte weiter an seinem Kinn. »Trotzdem«, sagte er nach einer Weile, »die Chancen, daß diese Frau noch am Leben ist, sind ziemlich gering. Und wenn sie es doch ist – dann ist das auch keine große Katastrophe. Sollen sie doch ihre Bücher schreiben und ihre verdammten Nachrichten senden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Stalin ausgerechnet seinem Dienstmädchen eine Botschaft für künftige Generationen anvertraut hat. Sie etwa?«
»Genau das befürchte ich…«
»Seinem Dienstmädchen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Felix Stepanowitsch! Schließlich war er Georgier, und ein altmodischer obendrein. Was den Genossen Stalin anging, taugten Frauen nur für drei Dinge: Kochen, Putzen und Kinderkriegen. Er…« Arsenjew brach ab. »Nein…«
»Es ist verrückt«, sagte Suworin und hob eine Hand. »Ich weiß. Ich habe mir während der ganzen Fahrt hierher immer wieder gesagt, daß es verrückt ist. Aber schließlich war er verrückt. Und er war Georgier. Das sollten Sie nicht vergessen. Weshalb hätte er sich sonst die Mühe gemacht, ein bestimmtes Mädchen zu überprüfen? Wie es aussieht, besaß er umfangreiche medizinische Unterlagen über sie. Und er wollte genau wissen, ob es in der Familie irgendwelche Erbkrankheiten gab. Außerdem – weshalb sollte er ihr Tagebuch in seinem Safe aufbewahren? Und da ist noch etwas…«
»Noch etwas?« Arsenjew trommelte nicht mehr auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihm. Jetzt umklammerte er sie.
»Sinaida zufolge gibt es in dem Tagebuch des Mädchens einen Hinweis auf Trofim Lyssenko. Sie wissen schon, die ›Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften‹ und dieser ganze Quatsch. Und dann soll er darüber gesprochen haben, wie nutzlos seine eigenen Kinder sind und daß ›die Seele Rußlands im Norden liegt‹.«
»Hören Sie auf, Felix Stepanowitsch! Das ist einfach zuviel.«
»Und dann ist da noch Mamantow. Ich habe nie begriffen, weshalb Mamantow so ein hirnrissiges Risiko eingegangen ist – Rapawa zu ermorden, und auf eine solche Art. Weshalb? Das ist es, was ich Ihnen gestern zu sagen versucht habe: Was in aller Welt konnte Stalin geschrieben haben, das noch fünfzig Jahre später irgendwelche Auswirkungen auf Rußland haben würde? Aber falls Mamantow geahnt hat – vielleicht hatte er vor Jahren in der Lubjanka von einigen der Ewiggestrigen irgendwelche Gerüchte gehört –, daß Stalin vielleicht ganz bewußt einen Erben hinterlassen hat…«
»Einen Erben?«
»Ja, das würde alles erklären, meinen Sie nicht auch? Für so etwas würde er jedes Risiko eingehen. Sehen wir doch den Tatsachen ins Gesicht, Juri Semjonowitsch. Mamantow ist durchaus zuzutrauen – ach, ich weiß nicht…« Er versuchte sich etwas völlig Absurdes auszudenken. »… Stalins Sohn als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen oder so etwas. Er besitzt eine halbe Milliarde Rubel.«
»Einen Moment«, sagte Arsenjew. »Lassen Sie mich nachdenken.« Er schaute über den Flugplatz auf die Reihe von Kampfhubschraubern. Suworin konnte sehen, wie Arsenjews fleischige Kiefermuskeln zuckten, als hingen sie an einem Fischhaken. »Und wir haben immer noch keine Ahnung, wo Mamantow steckt?«
»Er könnte überall sein.«
»Auch in Archangelsk?«
»Durchaus möglich. Wenn Sinaida Rapawa imstande war, Kelso am Flughafen aufzustöbern, weshalb nicht auch Mamantow? Er hätte sie vierundzwanzig
Weitere Kostenlose Bücher