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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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den Rand des Flugplatzes und schwenkte stadteinwärts. Gegenstände schienen in sein Gesichtsfeld zu stürmen, nur um sofort wieder zu verschwimmen und aus ihm herauszukippen – gelbe Scheinwerfer, die von den nassen Straßen reflektiert wurden, flache graue Dächer und die dunkelgrünen Flecke von Bäumen. So vielen Bäumen! Das überraschte ihn immer wieder. Er dachte an all die Leute, die er da unten kannte – an Serafima zu Hause in der Wohnung, die sie sich im Grunde gar nicht leisten konnten, und an die Jungen in der Schule und an Arsenjew, der noch ganz aufgeregt von seinem Telefongespräch mit dem Präsidenten war, und an Sinaida Rapawa und ihr Schweigen, als er sie im Leichenschauhaus verlassen hatte…
    Plötzlich stießen sie an die Unterseite der tiefhängenden Wolken, und er erhaschte noch ein, zwei, drei letzte Blicke durch die Fetzen des dicker werdenden Schleiers, und dann war Moskau verschwunden.

25. Kapitel
    R. J. O’Brian stand am Ende der Gasse, die zu Wawara Safanowas Hinterhof führte, an der Straßenecke und hatte den Kopf über die Karte gebeugt; sein Metallkoffer stand, zwischen die Beine geklemmt, auf der Erde.
    »Was meinen Sie, wie lange wir bis dorthin brauchen? Zwei Stunden?«
    Kelso warf einen Blick zurück auf das Holzhaus. Die alte Frau stand, auf ihren Stock gestützt, nach wie vor in der offenen Tür und beobachtete sie. Er hob die Hand zu einem Abschiedswinken, und die Tür wurde langsam geschlossen.
    »Bis wohin?«
    »Zu dem Tschischikow-Dorf«, sagte O’Brian. »Was meinen Sie?«
    »Bei diesem Wetter?« Kelso schaute zu dem zugezogenen Himmel auf. »Sie wollen da jetzt noch hin?«
    »Es gibt nur eine Straße. Sehen Sie selbst. Sie hat doch gesagt, es wäre ein Dorf, oder? Wenn es ein Dorf ist, dann liegt es an der Straße.« Er wischte ein paar Schneeflocken von der Karte und gab sie Kelso. »Ich würde sagen, zwei Stunden.«
    »Das ist keine Straße«, sagte Kelso. »Hier ist nur eine punktierte Linie. Das bedeutet, daß es ein Art Piste ist.« Die Linie erstreckte sich ostwärts durch den Wald, ungefähr achtzig Kilometer weit parallel zur Dwina, dann bog sie nach Norden ab und endete im Nirgendwo – hörte nach ungefähr dreihundert Kilometern einfach mitten in der Taiga auf. »Sehen Sie sich doch um, Mann. Sogar in der Stadt sind die meisten Straßen nicht asphaltiert. Was glauben Sie, wie sie dann dort draußen aussehen werden?«
    Er warf O’Brian die Karte zu und machte sich auf den Weg zu dem Toyota. O’Brian folgte ihm. »Wir haben Allradantrieb, Fluke. Wir haben Schneeketten.«
    »Und was ist, wenn wir eine Panne haben?«
    »Wir haben genug zu essen dabei. Wir haben Benzin, um Feuer zu machen, und können den ganzen Wald verheizen. Wir haben das Satelliten-Telefon.« Er gab Kelso einen Klaps auf die Schulter. »Wissen Sie was: Wenn Sie es mit der Angst zu tun bekommen, können Sie Ihre Mami anrufen. Was halten Sie davon?«
    »Meine Mami ist tot.«
    »Dann eben Sinaida. Sie können Sinaida anrufen.«
    »Sagen Sie, O’Brian, sind Sie mit ihr im Bett gewesen? Ich frage nur interessehalber.«
    »Was spielt das hier für eine Rolle?«
    »Ich möchte nur wissen, weshalb sie Ihnen nicht traut. Ob sie richtig liegt. Ist es Sex oder etwas Persönliches?«
    »Oho. Da liegt also der Hase im Pfeffer.« O’Brian grinste.
    »Lassen Sie’s gut sein, Fluke. Sie kennen doch die Regeln. Ein Gentleman plaudert nicht.«
    Kelso vermummte sich tiefer in seine Jacke und beschleunigte seinen Schritt. »Es ist keine Frage der Angst.«
    »Ach, wirklich nicht?«
    Sie waren jetzt in Sichtweite des Wagens. Kelso blieb stehen und drehte sich zu O’Brian um. »Na schön, ich gebe zu, daß ich Angst habe. Und wissen Sie, was mich am meisten beunruhigt? Die Tatsache, daß Sie keine Angst haben. Das macht mir wirklich angst.«
    »Blödsinn. So ein bißchen Schnee…«
    »Vergessen Sie den Schnee. Es ist nicht der Schnee, der mich beunruhigt.« Kelso betrachtete die baufälligen Häuser um sich herum. Die ganze Szene war braun und weiß und grau. Und stumm wie ein alter Film. »Sie wollen es wohl einfach nicht kapieren«, sagte er. »Sie haben keine Ahnung von Geschichte, das ist Ihr Problem. Zum Beispiel dieser Name›Tschischikow‹. Was bedeutet er für Sie?«
    »Nichts. Es ist einfach ein Name.«
    »Genau das ist es nicht. ›Tschischikow‹ war einer von Stalins Decknamen vor der Revolution. Im Jahre 1911 wurde für Stalin ein Paß unter dem Namen P. A. Tschischikow

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