Aurora
Land.«
Nach einer Weile begann O’Brian wieder zu singen, aber jetzt ganz leise und weniger zuversichtlich als zuvor.
»We’re walking in a winter wonderland…«
Eine Stunde verging, und dann noch eine.
Mehrere Male kam kurz der Fluß wieder in Sicht, aber das lohnte, wie O’Brian sagte, das Hinschauen nicht – das sumpfige Ufergelände, die breit und träge dahinfließenden Wassermassen und weit drüben am anderen Ufer wieder die flache, dunkle Ansammlung der Bäume, die sich sofort in den Schneeschwaden auflösten. Es war eine urtümliche Landschaft, und Kelso konnte sich gut vorstellen, wie ein Dinosaurier langsam durch sie hindurchstreifte.
Auf der Karte ließ sich kaum feststellen, wo sie sich befanden. Keine Siedlungen waren eingezeichnet, keine Landmarken. Kelso schlug vor, daß sie im nächsten Dorf anhalten und versuchen sollten, irgendwelche Anhaltspunkte zu finden.
Aber bis zum nächsten Dorf war es ein weiter Weg, es kam sozusagen überhaupt nicht. Kelso stellte fest, daß der Schnee auf der Straße unberührt war: Hier war seit Stunden kein Fahrzeug mehr vorbeigekommen. Sie gerieten zum ersten Mal in eine Verwehung – ein vom Schnee verdecktes Schlagloch –, und der Toyota kam ins Schleudern, seine Hinterräder verloren den Halt, bis sie schließlich wieder etwas Festes unter sich hatten. Der Wagen schlingerte. O’Brian riß das Steuer herum und brachte sie wieder auf Kurs. Er lachte – »Ja, da kommt Freude auf!« –, aber für Kelso war offensichtlich, daß auch O’Brian jetzt anfing, nervös zu werden. Der Reporter drosselte das Tempo, schaltete die Scheinwerfer ein, lehnte sich im Sitz vor und schaute hinaus in das Schneetreiben.
»Das Benzin wird knapp. Meiner Schätzung nach reicht es nur noch für ungefähr eine Viertelstunde.«
»Und was dann?«
»Dann fahren wir entweder nach Archangelsk zurück, oder wir fahren weiter und versuchen, einen Ort zu finden, an dem wir übernachten können.«
»Denken Sie vielleicht an ein Holiday Inn?«
»Fluke, Fluke…«
»Wenn wir versuchen, hier zu übernachten, läuft es darauf hinaus, daß wir den ganzen Winter hier verbringen.«
»Sie müssen wohl immer übertreiben? Man wird doch bestimmt einen Schneepflug hier vorbeischicken. Irgendwann jedenfalls.«
»Irgendwann?« wiederholte Kelso. Er schüttelte den Kopf. Und dann wäre es beinahe wieder zu einer Auseinandersetzung gekommen, wenn sie nicht gerade in diesem Augenblick eine Biegung umrundet und über den schneebedeckten Bäumen eine kleine Rauchfahne gesehen hätten.
O’Brian stand in der Tür des Toyota, hatte sich auf dem Dach abgestützt und schaute durch sein Fernglas. Es sah wie eine Art Siedlung aus, etwa einen halben Kilometer von der Straße entfernt und nur über eine unwegsame Piste zu erreichen.
Er setzte sich wieder ans Lenkrad. »Das wollen wir uns näher ansehen.«
Der Weg zwischen den Bäumen war tunnelförmig und kaum breit genug für ein einzelnes Fahrzeug, so daß O’Brian ganz langsam fahren mußte. Die Äste der Bäume krallten nach ihnen, schlugen gegen die Windschutzscheibe, kratzten an den Seiten des Wagens entlang. Die Fahrbahn verschlechterte sich. Sie ruckten von einer Seite zur anderen – scharf links, scharf rechts –, und plötzlich kippte der Toyota nach vorn, und Kelso wurde in Richtung Windschutzscheibe geschleudert; nur der Sicherheitsgurt rettete ihn. Der Motor orgelte eine Sekunde lang hilflos, dann blieb er stehen.
O’Brian drehte den Zündschlüssel, schaltete den Rückwärtsgang ein und gab vorsichtig Gas. Die durchdrehenden Hinterräder jaulten in dem lockeren Schnee. Er versuchte es noch einmal, diesmal angestrengter. Ein Heulen wie von einem in einer Falle sitzenden Tier.
»Steigen Sie bitte aus, Fluke, und sehen Sie nach, was passiert ist.« Er konnte seine aufkeimende Panik nicht ganz unterdrücken.
Kelso hatte Mühe, die Tür zu öffnen. Er sprang aus dem Wagen und versank bis zu den Knien. Die Schneewehe war so tief, daß sie bis an die Achsen reichte.
Er hämmerte gegen die Heckklappe und bedeutete O’Brian, daß er den Motor abschalten sollte.
In der Stille konnte er hören, wie Schnee durch das Astwerk der Bäume prasselte. Seine Knie waren naß und kalt. Er stapfte mühsam und staksig durch die tiefe Wehe zur Fahrertür und mußte erst mit seinen behandschuhten Händen den Schnee wegschaufeln, bevor er sie aufzerren konnte. Der Toyota war in einem Winkel von mindestens zwanzig Grad nach vorn gekippt. O’Brian mühte
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