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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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sich heraus.
    »Wo sind wir reingeraten?« wollte er wissen. Er watete zur Vorderseite des Wagens. »O Gott, das sieht aus, als hätte hier jemand eine Panzerfalle ausgehoben. Sehen Sie sich das an!«
    Er sah tatsächlich so aus, als verliefe ein Graben quer über die Piste. Ein paar Schritte weiter schien der Schnee wieder fester zu sein.
    »Vielleicht verlegen sie hier ein Kabel oder so etwas«, sagte Kelso. Aber ein Kabel wofür? Er schirmte die Augen mit den Händen ab und schaute durch den Schnee auf ein paar Holzhütten, die etwa dreihundert Meter entfernt lagen. Sie sahen nicht aus, als wären sie ans Stromnetz oder sonst etwas angeschlossen. Er registrierte, daß der Rauch verschwunden war.
    »Die haben das Feuer gelöscht.«
    »Wir brauchen jemanden, der uns freischleppt.« O’Brian versetzte dem Toyota verärgert einen Fußtritt. »Schrotthaufen.«
    Sich am Wagen entlanghangelnd, stapfte er nach hinten, öffnete die Heckklappe und holte zwei Paar Stiefel heraus, ein Paar aus grünem Gummi, das andere aus Leder, langschäftige Militärstiefel. Er warf Kelso die Gummistiefel zu. »Ziehen Sie die an«, sagte er. »Wir wollen losgehen und ein Schwätzchen mit den Eingeborenen halten.«
    Fünf Minuten später machten sie sich auf den Weg, nachdem sie ihre Kapuzen hochgeschlagen, den Wagen verschlossen und jeder ein Fernglas umgehängt hatten.
    Die Siedlung schien seit ein paar Jahren nicht mehr bewohnt zu sein. Die Handvoll hölzerner Hütten war ausgeplündert worden. Müll ragte aus dem Schnee heraus rostende Wellblechplatten, mit denen die Dächer gedeckt gewesen waren, zerbrochene Fensterrahmen, verrottende Planken, ein zerrissenes Fischernetz, Flaschen, Konservendosen, ein leckes Ruderboot, Maschinenteile, zerfetztes Sackleinen und, was besonders bizarr war, eine Reihe Kinostühle. Ein aus Holz erbautes Gewächshaus mit Plastikfolie anstelle von Glas war auf eine Seite gekippt.
    Kelso zog den Kopf ein und schaute in eines der halb verfallenen Gebäude. Es hatte kein Dach und war eiskalt. Es stank nach tierischen Exkrementen.
    Als er wieder herauskam, sah O’Brian ihn an und zuckte die Achseln.
    Kelso machte sich auf den Weg zum Rand der Lichtung.
    »Was ist da drüben?«
    Beide Männer hoben ihre Ferngläser an und richteten sie auf das, was wie eine Reihe von Holzkreuzen aussah, halb zwischen den Bäumen verborgen – russischen Kreuzen mit drei Querbalken: oben kurz, in der Mitte länger und unten schräg von links nach rechts geneigt.
    »Oh, das ist wundervoll«, sagte Kelso und versuchte zu lachen. »Ein Friedhof. Das ist grandios.«
    »Gehen wir einen Blick darauf werfen«, sagte O’Brian.
    Er machte sich mit weitausholenden, entschlossenen Schritten auf den Weg. Kelso folgte ihm, wesentlich zögerlicher, so gut er eben konnte. Zwanzig Jahre Zigaretten und Scotch schienen in seinem Herzen und in seinen Lungen eine Protestversammlung abzuhalten. Er schwitzte von der Anstrengung des Stapfens durch den Schnee. Er hatte Seitenstechen.
    Es war tatsächlich ein Friedhof, der da im Schutz der Bäume lag, und als sie näher herangekommen waren, konnte Kelso sechs – oder waren es acht? – Gräber erkennen, paarweise angeordnet, jeweils mit einem kleinen Holzzaun versehen. Die Kreuze waren zusammengezimmert, aber sehr ordentlich, mit weißen emaillierten Namensschildern und kleinen Bildern unter Glas, wie es in Rußland Brauch ist. A. I. Sumbatow stand auf dem ersten, 22.1.20-9.8.81. Das Bild zeigte einen uniformierten Mann in mittleren Jahren. Neben ihm war P. I. Sumbatowa, 6.12.26-14.11.92. Auch sie trug Uniform: eine Frau mit einem runden Gesicht und einem strengen Mittelscheitel. Neben ihnen lagen die Jeschows. Und neben den Jeschows die Golubs. Sie waren alle ungefähr im gleichen Alter gewesen. Sie trugen alle Uniform. T. J. Golub war als erster gestorben, 1961. Es war unmöglich, sein Gesicht zu erkennen. Es war herausgekratzt worden.
    »Das muß der Ort sein«, sagte O’Brian leise. »Ohne Frage, das ist er. Wer waren diese Leute, Fluke? Von der Armee?«
    »Nein.« Kelso schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube, das sind NKWD-Uniformen. Und hier… sehen Sie sich das an.«
    Es war das letzte Gräberpaar, dasjenige, das am weitesten von der Lichtung entfernt lag, etwas abseits von den anderen. Das waren die letzten Überlebenden gewesen. B. D. Tschischikow – seinen Rangabzeichen nach ein Major – 19.2.19-9.3.96. Und neben ihm M. G. Tschischikowa, 16.4.24-16.3.96. Sie hatte ihren Mann um genau

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