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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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eine Woche überlebt. Auch ihr Gesicht war unkenntlich gemacht worden.
    Sie standen eine Weile da wie Trauernde: stumm, mit gesenkten Köpfen.
    »Und dann war keiner mehr da«, murmelte O’Brian.
    »Oder nur noch einer.«
    »Das glaube ich nicht. Ausgeschlossen. Dieser Ort steht schon eine ganze Weile leer. Scheiße«, sagte er plötzlich und versetzte dem Schnee einen wütenden Tritt. »Und das nach allem, was wir hinter uns haben! Er ist uns durch die Lappen gegangen.«
    Die Bäume standen hier sehr dicht. Es war unmöglich, mehr als ein paar Meter weit zu sehen.
    »Ich sollte eine Aufnahme machen, solange es noch hell ist«, sagte O’Brian. »Sie warten hier. Ich gehe zum Wagen zurück.«
    »Oh, großartig«, sagte Kelso. »Vielen Dank.«
    »Haben Sie Angst, Fluke?«
    »Was glauben Sie denn?«
    »Huh«, sagte O’Brian. Er hob die Arme und wackelte über dem Kopf mit den Fingern.
    »Wenn Sie versuchen, irgendwelche Witze zu machen, O’Brian, dann bringe ich Sie um.«
    »Ho ho ho«, lachte O’Brian, bereits auf dem Rückweg zum Auto. »Ho ho ho.« Er verschwand zwischen den Bäumen. Kelso hörte sein dämliches Lachen noch ein paar Sekunden, dann war es so ruhig, daß nur das Rascheln des Schnees und sein eigener Atem zu hören waren. Auf dem Friedhof herrschte Totenstille.
    Mein Gott, was für ein Anblick. Man brauchte sich nur diese Daten anzusehen – sie waren eine Geschichte für sich. Er kehrte zu dem ersten Grab zurück, zog seine Handschuhe aus und holte seinen Notizblock aus der Tasche. Dann ließ er sich auf ein Knie nieder und schrieb die Angaben von den Kreuzen ab. Da war vor über vierzig Jahren ein ganzes Heer von Leibwächtern in den Wald abkommandiert worden, um einen kleinen Jungen zu beschützen, und alle hatten es durchgestanden, waren auf ihrem Posten geblieben, aus Loyalität oder Gewohnheit oder Angst, bis sie schließlich einer nach dem anderen tot umgefallen waren. Sie glichen diesen japanischen Soldaten, die in ihren Verstecken im Dschungel ausgeharrt hatten, ohne zu wissen, daß der Krieg längst vorbei war.
    Er fragte sich, wie weit Michail Safanow im Frühjahr 1953 wohl herangekommen war, und dann verdrängte er ganz bewußt diesen Gedankengang. Er war unerträglich vorerst; nicht hier.
    Er hatte Mühe, den Bleistift in den kalten Fingern zu halten, und das Schreiben fiel ihm schwer, weil sich ständig Schneeflocken auf das Papier legten. Trotzdem arbeitete er sich bis zu den letzten Kreuzen durch.
    B. D. Tschischikow, schrieb er. Zäh aussehender Bursche, brutales Gesicht. Dunkle Haut. Ein Georgier? Gestorben im Alter von 77…
    Er fragte sich, wie die Genossen Golub und Tschischikowa wohl ausgesehen haben mochten und wer ihre Gesichter zerstört hatte und warum. Ihre leeren Silhouetten hatten etwas überaus Unheimliches an sich. Unwillkürlich schrieb er: Könnten sie einer Säuberung zum Opfer gefallen sein l Verdammt, wo zum Teufel steckte O’Brian?
    Sein Rücken tat weh. Seine Knie waren naß. Er erhob sich, und nun kam ihm ein anderer Gedanke. Er befreite eine weitere Seite vom Schnee und leckte seinen Bleistift an.
    Die Gräber sind alle gepflegt, schrieb er. Sauber gejätet. Wenn dieser Ort so verlassen ist wie die Gebäude, wären sie dann nicht zugewuchert?
    »O’Brian?« rief er. »R. J.?«
    Der Schnee erstickte seine Rufe.
    Er steckte das Notizbuch weg, zog seine Handschuhe wieder an und verließ hastig den Friedhof. Der Wind fegte durch die verlassenen Gebäude vor ihm, erfaßte den Schnee und hob ihn hier und da an wie die Ecke eines Vorhangs. Er kämpfte sich den Weg über das Gelände, indem er O’Brians großen Fußstapfen folgte, bis er die Piste wieder erreicht hatte. Die Fußabdrücke verliefen eindeutig in Richtung Toyota. Er hob das Fernglas an die Augen und stellte es scharf. Der Wagen füllte das ganze Blickfeld, lag regungslos und weit entfernt da; er machte fast einen unwirklichen Eindruck. Und es gab keinerlei Anzeichen für jemanden in seiner Nähe.
    Merkwürdig.
    Er drehte sich ganz langsam um sich selbst, volle 360 Grad, mit dem Fernglas vor den Augen. Wald. Halb eingestürzte Mauern und Müll. Wald. Gräber. Wald. Piste. Toyota. Wieder Wald.
    Er ließ das Fernglas sinken, runzelte die Stirn, dann machte er sich auf den Weg zu dem Wagen, auch weiterhin O’Brians Spur folgend. Niemand sonst war hier durch den Schnee gestapft, soviel stand fest; da waren zwei Paar Fußabdrücke, die zur Lichtung hinführten, und ein Paar, das von ihr fortführte. Er

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