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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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er.
    »Nichts.« Kelso stöhnte. Ein Affenzirkus.
    »Wenn dieses Ding nicht funktioniert«, sagte er, »sitzen wir hier fest, ist Ihnen das klar? Wir sitzen hier fest bis April nächsten Jahres und können nichts anderes tun, als zuzuhören, wie er uns aus Stalins Gesammelten Werken vorliest.«
    Die Aussicht darauf war so erschreckend, daß er unwillkürlich lachen mußte, und zum zweiten Mal an diesem Tag fiel O’Brian in sein Gelächter ein.
    »O Mann«, sagte er, »was wir nicht alles tun, um berühmt zu werden.«
    Aber er lachte nicht lange. Das Gerät blieb stumm.
    Und es war in dieser Stille, ungefähr eine halbe Minute später, als Kelso glaubte, ganz schwach das Geräusch fließenden Wassers zu hören.
    Er hob eine Hand.
    »Was ist?« sagte O’Brian.
    »Der Fluß.« Er schloß die Augen und hob das Gesicht himmelwärts, um besser hören zu können. »Der Fluß, glaube ich…«
    Es war schwer, sein Geräusch aus dem Lärmen des Windes in den Bäumen herauszufiltern. Aber es war gleichmäßiger als der Wind und tiefer, und es schien von irgendwo auf der anderen Seite der Hütte zu kommen.
    »Machen wir uns auf die Suche«, sagte O’Brian. Er löste zwei Krokodilklemmen von der Batterie und rollte eilig die Kabel auf. »Das ergibt einen Sinn, wenn man’s genau bedenkt, die einzige Möglichkeit für ihn, sich fortzubewegen: mit einem Boot.«
    Kelso ergriff die beiden Koffer, und O’Brian rief:
    »Vorsichtig, Fluke.«
    »Wie bitte?«
    »Fallen! Schon vergessen? Er hat den ganzen Wald damit gespickt.«
    Kelso stand da und betrachtete unsicher den Boden; ihm wurde das Aufstieben des Schnees, das Zusammenschnappen der Metallbacken wieder bewußt. Aber es hatte keinen Zweck, sich deshalb Sorgen zu machen, dachte er, und ebensowenig konnten sie es vermeiden, direkt an der Tür der Hütte vorbeizugehen. Er wartete, bis O’Brian das Inmarsat zusammengepackt hatte, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg, wobei sie ständig darauf achteten, wo sie hintraten. Kelso vermutete den Russen jetzt überall: am Fenster seiner schäbigen Hütte, in dem Kriechkeller darunter, hinter dem Stapel Brennholz an der Rückwand, in dem feuchten und bemoosten Wasserfaß und in der Dunkelheit der nahen Bäume. Er konnte sich das auf seinen Rücken gerichtete Gewehr vorstellen und war sich in höchstem Maße der Weichheit und Verletzbarkeit seiner Haut bewußt.
    Sie erreichten den Saum der Lichtung und gingen dann parallel zum Waldrand weiter. Dichtes Unterholz. Umgestürzte, verrottete Baumstämme. Pilzgeflecht, das aussah wie zerflossene Gesichter. Und hin und wieder ein Krachen in einiger Entfernung, wenn sich die Bäume bewegten und Lawinen von gefrorenem Schnee abwarfen. Die Sicht betrug kaum mehr als eine Armeslänge. Sie konnten keinen Pfad finden, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zwischen den Bäumen hindurchzumühen.
    O’Brian ging voraus. Für ihn war es am übelsten: Er schleppte die beiden schweren Koffer und die große Batterie, mußte seinen massigen Körper seitwärts durch die schmalen Lücken zwängen, mal nach rechts, mal nach links, sich gelegentlich schnell ducken, wobei er keine freie Hand hatte, mit der er sein Gesicht vor den niedrig hängenden Ästen hätte schützen können. Kelso versuchte, O’Brian in dessen Fußstapfen zu folgen, und schon nach wenigen Schritten hatte er das Gefühl, daß der Wald hinter ihnen zuschwang wie eine massive Tür.
    Sie stolperten ein paar Minuten durch das Halbdunkel. Kelso wäre gern stehengeblieben, um das Schneidegerät in die andere Hand zu nehmen, aber er durfte O’Brian nicht aus den Augen verlieren, und bald hatte er alles vergessen außer dem Schmerz in der rechten Schulter und dem Stechen in der Lunge. Schweißtropfen und geschmolzener Schnee rannen ihm in die Augen und ließen alles verschwommen erscheinen. Er wollte gerade den Arm heben und sich mit dem nassen Ärmel die Stirn abwischen, als O’Brian einen Ruf ausstieß und vorwärtspreschte, und plötzlich – es war, als durchbräche man eine Mauer – lagen die Bäume hinter ihnen. Sie waren wieder im Licht und standen an der Kante einer steilen Böschung, die direkt vor ihnen zu einer aufgewühlten, fast fünfhundert Meter breiten Ebene aus gelblichgrauem Wasser abfiel.
    Es war ein beeindruckender Anblick – ein wahres Werk Gottes, ungefähr so, als stieße man inmitten eines Dschungels auf eine Kathedrale –, und eine Zeitlang sagte keiner der beiden Männer ein Wort. Dann setzte

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