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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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O’Brian seine Koffer und die Batterie ab und holte seinen Kompaß aus der Tasche. Er zeigte ihn Kelso. Sie befanden sich am Nordufer der Dwina und schauten fast genau nach Süden.
    Zehn Meter die Böschung hinunter, etwa hundert Meter zu ihrer Linken, lag ein kleines Boot am Ufer, das mit einer dunkelgrünen Plane abgedeckt war. Es sah aus, als wäre es für den Winter an Land gebracht worden, was nicht unwahrscheinlich wäre, dachte Kelso, denn schon jetzt begann sich Eis in den Fluß hinein zu erstrecken – ein vielleicht zehn oder fünfzehn Meter breites Schelf, das sich zusehends zu verbreitern schien.
    Am gegenüberliegenden Ufer war ein ähnlicher weißer Streifen, und dahinter ragte die dunkle Linie der Bäume auf. Kelso hob sein Fernglas und suchte das andere Ufer auf Anzeichen menschlicher Behausungen ab, konnte aber keine finden. Der Wald sah düster und völlig unzugänglich aus. Eine Wildnis.
    Er ließ das Fernglas sinken. »Wen wollen Sie anrufen?«
    »Amerika. Die sollen unser Büro in Moskau anrufen.« O’Brian hatte den Inmarsat-Koffer bereits geöffnet und hakte die Plastiktabletts zusammen. Er hatte die Handschuhe ausgezogen, und in der Kälte sahen seine Hände aus wie rohes Fleisch. »Wann wird es dunkel?«
    Kelso sah auf die Uhr. »Es ist fast fünf«, sagte er. »In ungefähr einer Stunde.«
    »Okay, sehen wir den Tatsachen ins Gesicht. Selbst wenn die Batterie nicht ihren Geist aufgibt und ich in die Staaten durchkomme und die einen Rettungstrupp losschicken, sitzen wir die Nacht über hier fest. Es sei denn, wir entschließen uns zu einer drastischen Maßnahme.«
    »Und welcher?«
    »Wir nehmen sein Boot.«
    »Sie würden sein Boot stehlen?«
    »Ich würde es mir ausleihen.« Er ging in die Hocke und wickelte die Batterie aus, wobei er es vermied, Kelso in die Augen zu schauen. »Sehen Sie mich nicht so an, Mann. Es würde ihm doch nichts ausmachen. Er braucht es ohnehin erst im Frühjahr wieder. Wenn die Temperaturen weiter so fallen, ist dieser Fluß in ein oder zwei Tagen zugefroren. Außerdem hat er unseren Wagen zusammengeschossen, oder etwa nicht? Also benutzen wir sein Boot – das ist mehr als recht und billig.«
    »Und Sie können mit einem Boot umgehen?«
    »Ich kann mit einem Boot umgehen. Ich kann mit einer Kamera umgehen. Ich kann Bilder durch die Luft fliegen lassen – ich bin Superman höchstpersönlich. Ja, ich kann ein Boot steuern. Nehmen wir uns das Ding.«
    »Und was ist mit ihm? Glauben Sie, daß er einfach dastehen und zusehen wird, wie wir damit verschwinden? Uns zum Abschied zuwinken?« Kelso schaute zurück in den Wald, aus dem sie gekommen waren. »Ist Ihnen klar, daß er uns wahrscheinlich in diesem Moment beobachtet?«
    »Okay. Also ziehen Sie los, und halten Sie ihn am Reden, während ich alles bereit mache.«
    »Oh, danke«, sagte Kelso. »Allerherzlichsten Dank.«
    »Jedenfalls hatte ich wenigstens eine Idee. Haben Sie eine bessere?«
    Kelso mußte zugeben, daß das ein Argument war.
    Er zögerte, dann richtete er sein Fernglas auf das Boot.
    Also auf diese Weise überlebte der Russe – so unternahm er seine gelegentlichen Ausflüge in die Außenwelt. So beschaffte er sich das Kerosin für seine Lampe, den Tabak für seine Pfeife, die Munition für seine Waffen, die Batterien für sein Transistorradio. Was benutzte er als Zahlungsmittel? Tauschte er das ein, was er erlegt oder in Fallen gefangen hatte? Oder war die Siedlung in den fünfziger Jahren mit einer Art Schatz – NKWD-Gold – ausgestattet worden, von dem man sich bedienen konnte?
    Das Boot war in einer kleinen Senke versteckt, von einer niedrigen Baumgruppe geschützt und unsichtbar für jeden, der zufällig auf dem Fluß vorbeikam. Es lag auf dem Kiel und war links und rechts mit Baumstämmen abgestützt. Es sah sehr stabil aus, war aber nicht groß, hatte für höchstens vier Leute Platz. Eine Ausbuchtung am Heck ließ auf einen Außenbordmotor schließen, und wenn das stimmte und wenn O’Brian ihm zum Laufen brachte, dann konnten sie Archangelsk in zwei Stunden erreichen – in Anbetracht der starken Strömung in der sich zunehmend verengenden Fahrrinne vielleicht sogar noch schneller.
    Er dachte an die Kreuze auf dem Friedhof, die Daten, die unkenntlich gemachten Gesichter.
    Es sah nicht so aus, als hätten viele Leute diesen Ort hier je wieder verlassen.
    Es war einen Versuch wert.
    »Also gut«, sagte er widerstrebend, »nehmen wir das Boot.«
    »Braver Junge.«
    Als er sich auf den

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