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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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der Russe schließlich, legte seinen Bleistiftstummel hin und griff nach seiner Pfeife, »ist Diebstahl. Und Imperialismus ist die höchste Form des Kapitalismus. Daraus folgt, daß der Imperialist der größte Dieb der gesamten Menschheit ist. Es macht ihm nichts aus, einem Mann seine Papiere zu stehlen. Oder ihm die letzte Kopeke aus der Tasche zu holen. Oder ihm sein Boot zu stehlen, ha, Genosse?«
    Er zwinkerte Kelso zu, dann musterte er ihn weiter, während er ein Streichholz anriß, das Feuer in den Pfeifenkopf saugte und eine Menge Qualm aufsteigen ließ. »Bitte, machen Sie die Tür zu, Genosse.« Es fing an, dunkel zu werden.
    Wenn wir die Nacht hier verbringen müssen, dachte Kelso, kommen wir nie wieder von hier weg. Wo zum Teufel blieb O’Brian?
    »Also«, fuhr der Russe fort, »und das ist die eindeutige Frage, Genosse: Wie schützen wir uns vor diesen Kapitalisten, diesen Imperialisten, diesen Dieben? Und wir behaupten, daß die Antwort auf diese eindeutige Frage ebenso eindeutig sein muß.« Er fächelte das Streichholz, bis es erlosch, und lehnte sich vor.
    »Wir schützen uns vor diesen Kapitalisten, diesen Imperialisten, diesen stinkenden, kriechenden Dieben der gesamten Menschheit, nur durch allerunerbittlichste Wachsamkeit. Nehmen Sie zum Beispiel das norwegische Paar mit seinem Schlangenlächeln kriechen auf ihren madigen Bäuchen durchs Unterholz und fragen nach ›dem Weg, Genosse‹, stellen Sie sich das vor! Auf einer ›Wanderung‹, stellen Sie sich das vor!«
    Er schwenkte ihre offenen Pässe vor Kelsos Gesicht, und Kelso konnte einen zweiten Blick auf die beiden jungen Leute werfen. Der Mann trug ein Stirnband in psychedelischen Farben…
    »Sind wir solche Idioten«, sagte er, »derart rückständige Primitive, daß wir nicht imstande sind, den kapitalistischimperialistischen Dieb und Spion zu erkennen, wenn er sich bei uns einschleicht? Nein, Genosse, wir sind keine derart rückständigen Primitiven! Solchen Leuten erteilen wir eine harte Lektion in den sozialistischen Realitäten ich habe ihre Geständnisse hier vor mir, zuerst haben sie alles abgestritten, aber am Ende haben sie es zugegeben, und wir brauchen kein Wort mehr über sie zu verlieren. Sie sind das, was sie Lenins Vorhersage nach sein sollten: Staub auf dem Misthaufen der Geschichte. Und über ihn brauchen wir auch kein Wort zu verlieren!« Er schwenkte einen Ausweis – den des älteren Mannes. »Oder über den! Oder über den!« Die Gesichter der Opfer waren kurz zu sehen. »Das«, sagte der Russe, »ist unsere eindeutige Antwort auf die eindeutige Frage, die sämtliche Kapitalisten, Imperialisten und stinkenden Diebe stellen!«
    Er lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und lächelte grimmig.
    Das Gewehr war fast in Kelsos Reichweite, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Vielleicht war es nicht geladen. Und selbst wenn es geladen war, wußte er nicht, wie man es abfeuerte. Und sogar wenn er es schaffte, es abzufeuern, wußte er, daß er den Russen niemals treffen würde: Er war eine übernatürliche Macht. Eine Minute war er vor einem, in der nächsten hinter einem, bald war er im Wald, bald war er hier, saß an seinem Tisch, beschäftigte sich mit seiner Sammlung von Geständnissen, machte sich gelegentlich eine Notiz.
    »Aber noch viel schlimmer«, sagte der Russe nach einer Weile, »ist der Krebs des Rechtsabweichlertums.« Er zündete seine Pfeife abermals an und saugte am Mundstück. »Und da war Golub der erste.«
    »Golub war der erste«, wiederholte Kelso wie betäubt.
    Er erinnerte sich an die Reihe von Kreuzen: T. J. Golub, mit unkenntlich gemachtem Gesicht, gestorben im November 1961.
    Das Wesen von Stalins Erfolg war im Grunde überaus simpel, dachte er; er basierte auf einer Erkenntnis, die sich auf bloße vier Wörter reduzieren ließ: Menschen fürchten den Tod.
    »Golub war der erste, der den klassischen Beschwichtigungstendenzen des Rechtsabweichlertums erlag. Ich war damals natürlich noch ein Kind, aber ich kann sein Gewinsel immer noch deutlich hören. ›Oh, Genossen, in den Dörfern sagen sie, daß der Leichnam des Genossen Stalin von seinem ihm zustehenden Platz neben Lenin entfernt worden ist! Oh, Genossen, was sollen wir tun? Es ist hoffnungslos, Genossen! Sie werden kommen und uns alle umbringen! Wir müssen uns ergeben‹.
    Haben Sie je erlebt, wie sich Fischer verhalten, wenn auf einem großen Fluß ein Sturm aufzieht? Ich habe es viele Male erlebt. Angesichts eines Sturms nimmt

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