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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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nicht daran hindern können, Ihre Version der Ereignisse im Ausland zu publizieren. Aber es wird von unserer Seite aus keine amtliche Bestätigung geben, haben Sie verstanden? Ganz im Gegenteil. Wir behalten uns das Recht vor, unseren Bericht über Ihre Tätigkeiten am gestrigen Tag publik zu machen, und in dem werden Ihre Motive erheblich anders aussehen. Nur zum Beispiel: Sie wurden verhaftet, weil Sie sich im Zoopark vor zwei Kindern unsittlich entblößt haben, vor den Töchtern von einem meiner Leute. Oder: Sie wurden betrunken auf dem Smolenskaja-Kai aufgegriffen, wo Sie in den Fluß urinierten, und mußten festgenommen werden, weil Sie gewalttätig wurden und die Milizionäre beleidigten.«
    »Das wird niemand glauben«, sagte Kelso mit vergeblicher Entrüstung. Natürlich würden sie es glauben. Er konnte schon jetzt eine Liste von allen aufstellen, die es glauben würden.
    »Das war’s also?« bemerkte er bitter. »Mamantow kommt davon? Oder wollen Sie vielleicht selbst versuchen, Stalins Papiere zu finden, damit Sie sie irgendwo vergraben können, wie ihr Leute auch sonst alles vergrabt, was ›peinlich‹ist?«
    »Sie gehen mir auf die Nerven «, sagte der Russe. Offenbar fing jetzt er an, die Beherrschung zu verlieren. »Leute wie Sie. Was wollt ihr denn noch alles von uns? Ihr habt gewonnen, aber reicht euch das? Nein, ihr müßt es uns auch noch ständig unter die Nase reiben – Stalin, Lenin, Berija: Ich kann diese verdammten Namen nicht mehr hören – und zwingt uns, alle unsere schmutzigen Kleiderschränke zu öffnen und uns in Schuldgefühlen zu suhlen, nur damit ihr euch überlegen vorkommen könnt…«
    Kelso schnaubte verächtlich. »Jetzt hören Sie sich an wie Mamantow.«
    »Ich verabscheue Mamantow«, sagte der Russe. »Haben Sie kapiert? Und aus demselben Grund verabscheue ich Sie. Wir wollen dem Genossen Mamantow und seinesgleichen das Handwerk legen – was dachten Sie denn, worum es hier geht? Aber jetzt sind Sie auf der Bildfläche erschienen – auf ›was ganz Großes gestoßen‹ –, etwas, von dem Sie in Wirklichkeit nicht die geringste Ahnung haben…«
    Er brach ab – er hat sich, dachte Kelso, dazu hinreißen lassen, mehr zu sagen als geplant –, und jetzt wurde ihm auch klar, wo er ihn schon einmal gesehen haben mußte.
    »Sie waren dort, stimmt’s?« sagte Kelso. »Als ich ihn aufgesucht habe. Sie waren einer der Männer vor seiner Wohnung…«
    Aber er redete ins Leere. Der Russe war bereits auf dem Rückweg zum Wagen.
    »Bringen Sie ihn ins Ukraina«, sagte er zum Fahrer. »Dann kommen Sie wieder hierher und holen mich ab.«
    »Wer sind Sie?«
    »Steigen Sie ein. Und seien Sie dankbar.«
    Kelso zögerte, aber er war plötzlich zu müde für Widerworte. Er ließ sich erschöpft und resigniert auf dem Rücksitz nieder, worauf der Fahrer den Motor anließ. Der Russe schlug mit Nachdruck die Tür zu. Kelso war völlig erledigt und schloß die Augen, und da war sie wieder, Rapawas Leiche, die in der Dunkelheit baumelte. Bum. Bum. Er öffnete die Augen und sah, daß es der blonde Mann war, der an die Scheibe klopfte. Kelso kurbelte sie herunter.
    »Noch etwas.« Er strengte sich sehr an, wieder höflich zu wirken. Er lächelte. »Wir setzen voraus, daß jetzt Mamantow dieses Notizbuch hat. Aber haben Sie die andere Möglichkeit in Erwägung gezogen? Vergessen Sie nicht – Rapawa hat damals, 1953, sechs Monate lang ein Verhör nach dem anderen durchgestanden und danach fünfzehn Jahre in Kolyma. Nehmen wir einmal an, es ist Mamantow und seinen Freunden nicht gelungen, ihn gestern abend kleinzukriegen. Das ist nur eine Möglichkeit, die aber die – Brutalität ihres Verbrechens erklären würde: Frustration. Gesetzt den Fall, und Sie wären an Mamantows Stelle: Wen würden Sie sich als nächstes vornehmen wollen?« Er schlug aufs Wagendach. »Schlafen Sie gut in New York.«
    Suworin schaute dem großen Wagen nach, wie er über das unebene Gelände holperte und dann außer Sichtweite verschwand. Er wendete sich ab, setzte seine Pfeife in Brand und steuerte auf den Fluß zu. Er ging das Ufer entlang, bis er zu einem großen, in Beton verankerten Metallpoller kam. Dort hatten während der kommunistischen Zeit noch Schiffe festgemacht, bevor die wirtschaftlichen Verhältnisse bewerkstelligten, was Hitlers Bombern nicht gelungen war, und die Docks verödeten. Er war von der Schau, die er abgezogen hatte, erschöpft. Er wischte den Beton mit seinem Taschentuch sauber, setzte sich

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