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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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und schob seinen Stuhl zurück. »Sie müssen für eine Weile runter in die Zellen. Sie brauchen aber keine Angst zu haben.«
    Bei der Erwähnung der Zellen verspürte Kelso einen Anflug von Panik. »Ich möchte mit meiner Botschaft sprechen.«
    Belenki stand auf, zog seine Krawatte zu einem festen Knoten zusammen, knöpfte seine Jacke zu und zerrte sie in einem hoffnungslosen Versuch, sie geradezurücken, herunter.
    »Darf ich mit jemandem von der Botschaft sprechen?« wiederholte Kelso seine Frage. »Ich möchte, daß Sie mich über meine Rechte aufklären.«
    Belenki hob die Schultern und bewegte sich auf die Tür zu.
    »Zu spät«, sagte er.
    Im Zellentrakt unter der Zentrale der Moskauer Stadtmiliz wurde Kelso flüchtig durchsucht, dann wurden ihm Paß, Brieftasche, Uhr, Füllfederhalter, Gürtel, Krawatte und Schnürsenkel abgenommen. Er sah zu, wie die Sachen in einen Karton geschaufelt wurden, unterschrieb ein Formular und bekam eine Quittung ausgehändigt. Dann folgte er – die Schuhe in der einen, die Quittung in der anderen Hand und den Mantel über dem Arm – dem Wärter in einen weißgetünchten Korridor mit Stahltüren an beiden Seiten. Der Wärter litt an Furunkulose – das Genick über dem fettigen braunen Kragen sah aus wie ein Teller voller roter Klöße. Als sie seinen Schritt hörten, brachen die Insassen in einigen Zellen in lautes Geschrei und Geklopfe aus. Er nahm keine Notiz davon.
    Die achte Zelle auf der rechten Seite. Drei mal vier Meter groß. Kein Fenster. Ein Metallbett. Keine Decke. Ein Emailleeimer mit einem fleckigen Holzdeckel in einer Ecke.
    Kelso ging auf Strümpfen langsam in die Zelle hinein und warf den Mantel und die Schuhe auf das Bett. Hinter ihm schlug die Tür mit einem U-Boot-Getöse zu.
    Hinnehmen. Das war, wie er bereits vor vielen Jahren in Rußland gelernt hatte, das Geheimnis des Überlebens. An der Grenze, wenn die Papiere zum fünfzehnten Mal überprüft wurden. An der Straßensperre, wenn man aus keinerlei ersichtlichem Grund angehalten wurde und anderthalb Stunden warten mußte. Im Ministerium, wenn man hinging, um das Visum abstempeln zu lassen, und niemand sich die Mühe machte, zu erscheinen. Nimm es hin. Warte. Laß das System sich selbst totlaufen. Protestieren führt nur dazu, daß der eigene Blutdruck steigt.
    Das Guckloch in der Mitte der Tür klickte auf, blieb einen Moment offen, dann klickte es wieder zu. Er hörte, wie sich die Schritte des Wärters entfernten.
    Er setzte sich auf das Bett, schloß die Augen und sah sofort und unwillkürlich – wie das Nachbild eines grellen Lichts, das sich in die Netzhaut gebrannt hat – die nackte und weiße Leiche, die in der Zugluft des Fahrstuhlschachts baumelte – Schultern, Absätze und gefesselte Hände, die immer wieder gegen die Wände stießen.
    Er attackierte die Tür, hämmerte mit seinen Schuhen dagegen und brüllte eine Weile, bis er sich abreagiert hatte. Dann drehte er sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Metalltür, so daß er den engen Raum seiner Zelle vor Augen hatte. Dann ließ er sich langsam hinuntergleiten, bis er auf dem Boden saß, und schlang die Arme um die Knie.
    Zeit. Also, damit hat es eine merkwürdige Bewandtnis, mein Junge. Das Messen der Zeit. Das läßt sich natürlich am besten mit einer Uhr bewerkstelligen. Und wenn man keine Uhr hat, kann man statt dessen die Ebbe und Flut von Helligkeit und Dunkelheit benutzen. Und wenn man kein Fenster hat, durch das man ein derartiges Auf und Ab wahrnehmen kann, muß man sich eben auf irgendeinen inneren Mechanismus des Verstandes verlassen. Aber wenn der Verstand einen Schock erlitten hat, dann ist der Mechanismus gestört, und die Zeit wird das, was die Erde für einen Betrunkenen ist – sie schwankt.
    Also beförderte Kelso seinen Körper irgendwann von der Tür zum Bett und deckte sich mit dem Mantel zu. Er klapperte mit den Zähnen.
    Seine Gedanken waren verworren, unzusammenhängend. Er dachte an Mamantow und ging ihr Zusammentreffen immer wieder durch, versuchte sich zu erinnern, ob er irgend etwas gesagt hatte, was Mamantow zu Rapawa geführt haben könnte. Und er dachte an Rapawas Tochter und wie er in seiner Aussage sein Versprechen ihr gegenüber gebrochen hatte. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Nun hatte er sie als Hure bloßgestellt. Das ist der Lauf der Dinge. Vermutlich hatte die Miliz in irgendeiner Akte ihre Adresse. Und auch ihren Namen.
    Man würde sie vom Tod ihres Vaters unterrichten – und wie würde

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