Aurora
und zog die Fotokopie von Kelsos Aussage aus der Tasche. So viel zu schreiben – an die zweitausend Wörter –, so schnell und so klar und deutlich, und das alles nach einem derartigen Erlebnis… Auf jeden Fall bestätigte es seine Vermutung: Dieser Bursche, dieser Fluke, war ein cleverer Mann.
Lästig. Hartnäckig. Clever.
Er ging die Seiten noch einmal mit seinem goldenen Drehbleistift durch und machte eine Liste der Dinge, die Netto überprüfen sollte. Sie mußten sich das Haus in der Wspolni-Straße genauer ansehen. Sie mußten diese Tochter von Rapawa finden. Sie mußten eine Liste von sämtlichen Dokumentenprüfern im Raum Moskau aufstellen, denen Mamantow das Notizbuch vielleicht zur Begutachtung vorlegen würde. Und von allen Handschriftenexperten. Und sie mußten ein paar unverdächtige Historiker auftreiben, die plausible Vorschläge machen konnten, was dieses vermeintliche Notizbuch wohl enthielt. Und, und, und… Ihm war zumute, als müßte er mit den Händen Gas in eine Flasche zurückstopfen.
Er machte sich immer noch Notizen, als Netto und der Fahrer zurückkehrten. Er erhob sich steif. Entnervt stellte er fest, daß der Poller auf der Rückseite seines schönen Mantels einen rostfarbenen Fleck hinterlassen hatte. Einen Großteil der Rückfahrt nach Jassenewo verbrachte er mit dem Versuch, den Fleck zu beseitigen, indem er wie besessen darauf herumrieb.
12. Kapitel
Kelsos Hotelzimmer lag im Dunkeln; die Vorhänge waren geschlossen. Kelso zog die billigen Nylongardinen auf. Er registrierte einen seltsamen Geruch – Körperpuder? Aftershave? Jemand war hier drinnen gewesen. Der Blondköpfige, richtig? Eau Sauvage? Er hob den Telefonhörer ab und hörte ein leises Brummen. Das Atmen fiel ihm schwer. Seine Haut kribbelte. Er hätte einen Whisky nötig gehabt, aber die Minibar war seit der Nacht mit Rapawa nicht mehr aufgefüllt worden; es war nichts mehr darin außer Mineralwasser und Orangensaft. Er hätte auch ein heißes Bad nötig gehabt, aber die Wanne besaß keinen Stöpsel.
Kelso hatte inzwischen eine Vermutung, wer der blonde Mann sein könnte. Er kannte diesen Typ – verbindlich und elegant gekleidet, verwestlicht, entwurzelt – viel zu aufgeweckt für die einfache Geheimpolizei. Männern wie diesem war Kelso in den letzten zwanzig Jahren immer wieder bei Botschaftsempfängen begegnet, hatte ihre diskreten Einladungen zum Lunch und zu Drinks abgelehnt, hatte sich ihre kalkuliert indiskreten Scherze über das Leben in Moskau angehört. Früher nannten sie sich das Erste Hauptdirektorat des KGB. Jetzt nannten sie sich SWR. Der Name hatte sich geändert, der Job nicht. Der Blondköpfige war ein Spion. Und er ermittelte gegen Mamantow. Sie hatten die Spione auf Mamantow angesetzt, was nicht gerade ein Vertrauensvotum für den FSB war.
Die Erinnerung an Mamantow veranlaßte Kelso, rasch zur Tür zu gehen, den schweren Schlüssel im Schloß umzudrehen und die Kette vorzulegen. Durch das Guckloch warf er einen Fischaugenblick auf den leeren Korridor.
»Aber Sie haben ihn umgebracht. Sie sind der Mörder.«
Erst jetzt befiel ihn mit einem Mal tiefes Entsetzen, und er begann zu zittern. Er kam sich schmutzig vor; irgendwie besudelt. Ihm war, als läge die Erinnerung an die Nacht wie eine Dreckschicht auf seiner Haut.
Er ging in das kleine, grün gekachelte Badezimmer, zog sich aus und drehte die Dusche auf. Er stellte das Wasser so heiß ein, wie er es gerade noch ertragen konnte, und seifte sich von Kopf bis Fuß ein. Der Moskauer Schmutz färbte den Schaum grau. Kelso stand bewegungslos unter dem dampfenden Wasserstrahl und ließ sich einfach zehn Minuten lang von ihm geißeln, ließ den Strahl auf Schulter und Brustkorb prasseln, dann erst stieg er aus der Wanne. Wasser tropfte auf den gewellten Linoleumboden. Kelso stand in einer Pfütze und zündete sich eine Zigarette an, die er rauchte, während er sich gleichzeitig rasierte. Er schob die Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen und führte den Rasierapparat um sie herum. Dann trocknete er sich ab, legte sich aufs Bett und zog die Decke bis ans Kinn. Aber er schlief nicht.
Kurz nach neun klingelte das Telefon. Die Glocke war schrill. Es klingelte lange Zeit, hörte kurz auf und setzte dann noch einmal ein. Aber diesmal legte derjenige, wer immer es auch sein mochte, rasch wieder auf.
Ein paar Minuten später klopfte jemand leise an seine Zimmertür.
Kelso fühlte sich jetzt nackt und schutzlos. Er wartete zehn Minuten, warf
Weitere Kostenlose Bücher