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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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sie darauf reagieren? Ohne eine Träne zu vergießen, da war er ziemlich sicher. Aber auch irgendwie rachsüchtig.
    In seinen Träumen wollte er sie noch mal küssen, aber sie entzog sich seiner Umarmung. Sie tanzte ruckhaft über den Schnee vor dem Wohnblock ihres Vaters, während O’Brian auf und ab marschierte und so tat, als wäre er Hitler. Frau Mamantowa tobte gegen ihren Wahnsinn an. Und irgendwo, hinter einer Tür, klopfte Rapawa und wollte herausgelassen werden. Hier drinnen, mein Junge! Bum! Bum! Bum!
    Er erwachte und stellte fest, daß ihn ein starres blaues Auge durch das Guckloch hindurch betrachtete. Die Metallklappe fiel runter und verschieß das Guckloch, das Schloß klirrte.
    Hinter dem Mann mit den Furunkeln stand ein zweiter Mann – blondköpfig, gut gekleidet –, und in Kelso kam Hoffnung auf. Die Botschaft: Man ist gekommen, um mich hier herauszuholen! Aber dann sagte der Blondköpfige auf russisch: »Dr. Kelso, ziehen Sie bitte Ihre Schuhe an«, und der Wärter kippte den Inhalt des Kartons aufs Bett.
    Kelso bückte sich, um seine Schnürsenkel einzufädeln. Der Fremde, registrierte er, trug ein Paar elegante Schuhe westlicher Machart. Er richtete sich auf, streifte seine Armbanduhr über und sah, daß es erst zwanzig Minuten nach sechs war. Bloß zwei Stunden in der Zelle, aber das reichte fürs ganze Leben. In Schuhen fühlte er sich wieder menschlicher. Mit etwas an den Füßen ist ein Mann allem gewachsen. Sie gingen den Korridor entlang und lösten dabei dasselbe verzweifelte Hämmern und Rufen aus wie zuvor.
    Er nahm an, daß man ihn nach oben bringen würde, um ihn weiter zu verhören, aber statt dessen traten sie hinaus auf einen Hinterhof, wo ein Wagen auf sie wartete, in dem zwei Männer auf den Vordersitzen saßen. Der Blondköpfige öffnete Kelso eine der hinteren Türen – »Bitte«, sagte er mit unterkühlter Höflichkeit –, dann ging er um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite ein. Im Wageninneren war es stickig und stank nach Schweiß wie nach einer langen Fahrt; nur das leichte Aftershave des Blondköpfigen machte die Luft etwas erträglicher. Sie fuhren vom Gelände der Milizzentrale herunter auf die stille Straße. Niemand sagte ein Wort.
    Es fing gerade an, hell zu werden – jedenfalls so hell, daß Kelso ungefähr erkennen konnte, wohin sie fuhren. Er hatte die drei Männer bereits als Geheimpolizei eingestuft, und das bedeutete FSB, und das wiederum bedeutete Lubjanka. Aber zu seiner Überraschung stellte er fest, daß sie nicht nach Westen, sondern nach Osten fuhren. Sie fuhren durch den Nowy Arbat an menschenleeren Geschäften vorbei, bis das Ukraina in Sicht kam. Also brachte man ihn in sein Hotel zurück, dachte er. Aber auch das erwies sich als Irrtum. Anstatt die Brücke zu überqueren, bogen sie nach rechts ab und folgten dem Lauf der Moskwa. Der Morgen dämmerte jetzt schnell herauf und erinnerte an eine chemische Reaktion: Die Dunkelheit löste sich jenseits des Flusses auf und verwandelte sich zuerst in Grau und dann in ein schmutziges Alkaliblau. Aus den Fabrikschloten am gegenüberliegenden Ufer – einer Gerberei, einer Brauerei – quoll Rauch und Dampf und nahm eine ätzende grünlichgelbe Farbe an.
    Sie fuhren schweigend noch ein paar Minuten weiter. Plötzlich bogen sie von der Uferstraße ab und hielten auf einem öden Stück aufgeschüttetem Land an, das ins Wasser hineinragte. Zwei große Seevögel schlugen mit den Flügeln und flogen dann schreiend davon. Der Blondköpfige stieg als erster aus, und nach kurzem Zögern folgte Kelso seinem Beispiel. Das hier ist ein perfekter Ort, um einen Unfall zu inszenieren, schoß es ihm durch den Kopf: ein schneller Stoß, aufgeregte Berichte in den Medien, ein gefundenes Fressen für die Londoner Wochenendbeilagen, die erst lange Mutmaßungen anstellen würden, um den Fall dann wieder zu vergessen. Aber er setzte eine tapfere Miene auf. Was blieb ihm schon anderes übrig?
    Der Blondköpfige hatte ihm den Rücken zugewandt und las die Aussage, die Kelso der Miliz ausgehändigt hatte. Die Zettel flatterten in der vom Fluß kommenden Brise. Irgend etwas an ihm kam Kelso bekannt vor.
    »Ihr Flugzeug«, sagte der Mann, ohne sich umzudrehen, »startet um ein Uhr dreißig vom Scheremetjewo-2. Sie werden an Bord sein.«
    »Wer sind Sie?«
    »Ich lasse Sie jetzt in Ihr Hotel zurückbringen, und Sie werden zusammen mit Ihren Kollegen in den Bus zum Flughafen steigen.«
    »Weshalb tun Sie das?«
    »Gut

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