Aurora
nur zu dem unauslöschlichen Bild von der Gestalt im Fahrstuhlschacht zu führen.
Wie eine Rinderhälfte in einem Schlachterladen…
Er klopfte seine Taschen ab, um die Zigaretten zu finden, und zog O’Brians Zeitungen heraus. Er warf sie auf den Nebensitz und versuchte, sie nicht zu beachten. Aber nach ein paar Minuten erwischte er sich dabei, daß er die Schlagzeilen verkehrt herum las, und nahm die Zeitungen schließlich zögernd zur Hand.
Nichts Besonderes, nur zwei von den Freiexemplaren in englischer Sprache, die in jedem Hotelfoyer auslagen.
Die Moskau Times. Aus dem Inland: Der Präsident ist wieder einmal krank oder wieder betrunken oder beides. Ein Serienkannibale in der Umgebung von Kemerowo hat angeblich achtzig Menschen getötet und verspeist. Interfax meldet, daß in Moskau 60.000 Kinder allnächtlich auf der Straße schlafen. Gorbatschow dreht einen Werbespot für Pizza Hut. Aus Protest gegen Pläne, Lenins mumifizierten Leichnam aus seinem Mausoleum auf dem Roten Platz zu entfernen, hat eine Gruppe in der Metrostation Nagornaja eine Bombe gelegt.
Aus dem Ausland: Der Internationale Währungsfonds hat angedroht, 700 Millionen US-Dollar an Hilfsgeldern zurückzuhalten, falls Moskau sein Haushaltsdefizit nicht verringert.
Wirtschaft: Die Zinssätze haben sich verdreifacht, die Wertpapierpreise sind um die Hälfte gesunken.
Kirche: Eine neunzehnjährige Nonne sagt das Ende der Welt für den 31. Oktober voraus. Ihre Gefolgschaft besteht aus zehntausend Anhängern. Eine Statue der Muttergottes wandert in der Schwarzerde-Region herum und vergießt Tränen aus echtem Blut. Da war ein heiliger Mann aus Tarko-Sele, der in Zungen redete. Da gab es Fakire und Pfingstler, Gesundbeter, Schamanen, Wunderheiler, Anachoreten und Marabuts und Anhänger der skoptsy, die sich für Inkarnationen des Herrn hielten… Es war wie zu Rasputins Zeiten, dachte Kelso. Das ganze Land war ein einziges Chaos aus verrückten Auguren und falschen Propheten.
Er nahm die andere Zeitung zur Hand, The eXile, geschrieben für junge Leute aus dem Westen wie O’Brian, die in Moskau arbeiteten. Hier gab es keine Kirchennachrichten, dafür aber Unmengen von Verbrechensmeldungen:
Im Dorf Kamenka in der Oblast Smolensk, wo die Kolchose bankrott ist und die Staatsangestellten das ganze Jahr noch keinen Lohn erhalten haben, bestand die Hauptbeschäftigung der Jugendlichen in diesem Sommer darin, an der Straße von Moskau nach Minsk herumzuhängen und Benzin zu schnüffeln, das sie zuvor für einen Rubel die Halbliterflasche gekauft hatten. Im August gingen zwei der größten Benzinsüchtigen, Pawel Michejenkow, 11, und Anton Maljarenko, 13, von ihrem Lieblingszeitvertreib – dem Foltern von Katzen – dazu über, einen fünfjährigen Jungen namens Sascha Petrotschenkow an einen Baum zu fesseln und bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Maljarenko wurde in seine Heimatstadt Taschkent deportiert. Michejenkow blieb in Kamenka, ohne bestraft zu werden – ihn in eine Besserungsanstalt zu schicken hätte 15 Tausend Rubel gekostet, und die Stadt hat das Geld nicht. Der Mutter des Opfers, Swetlana Petrotschenkowa, wurde gesagt, der Mörder ihres Sohnes könne weggebracht werden, wenn sie das Geld für die. Deportation selbst aufbringe, andernfalls müsse sie weiter mit ihm im gleichen Dorf leben. Der Polizei zufolge hat Michejenkow mit seinen Eltern regelmäßig Wodka getrunken, seit er vier Jahre alt war.
Er blätterte rasch um und fand einen Führer für das Moskauer Nachtleben. Schwulenbars – Dyke, Die Drei Affen, Queer Nation. Nacktklubs – Nawada, Rasputin, Die Intime Peep-Show; Nachtlokale – das Buchenwald (wo das Personal Nazi-Uniformen trug), Bulgakow, Utopija. Er las, was über das Robotnik dastand: Kein Lokal könnte ein besseres Beispiel für die Exzesse des neuen Rußlands liefern als das Robotnik: aufreizendes Interieur, ohrenbetäubende Techno-Musik, Lolitas und ihre schafsköpfigen Beschützer, strengste Sicherheitsvorkehrungen, schwarzäugige Kundinnen, die Evian in sich hineinschütten. Such dir eine aus, und guck zu, wie jemand erschossen wird.
Das traf so ziemlich den Kern der Sache, dachte er.
Das Abflugterminal von Scheremetjewo-2 wimmelte von Leuten, die versuchten, aus Rußland herauszukommen. Schlangen bildeten sich wie Zellwucherungen unter dem Mikroskop – wuchsen aus dem Nichts, wanden sich in sich selbst zurück, lösten sich auf, bildeten sich neu und verschmolzen mit anderen Schlangen: Schlangen vor dem
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