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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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gearbeitet. In dem Augenblick, in dem er mich sah, fing er an, mich anzubrüllen. Musterte meine Kleidung. Nannte mich eine verdammte Hure.« Sie schüttelte den Kopf.
    »Und was ist dann passiert?«
    »Er ist mir nach drinnen gefolgt. In meine Wohnung. Ich habe zu ihm gesagt: ›Wenn du mich schlägst, dann kratze ich dir die Augen aus, ich bin nicht mehr dein kleines Mädchen.‹ Daraufhin hat er sich beruhigt.«
    »Was wollte er?«
    »Mit mir reden, hat er gesagt. Das war ein Schock für mich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er wußte, wo ich wohne. Ich hatte nicht einmal gewußt, ob er noch lebt. Hab gedacht, ich wäre ihn ein für allemal los. O ja, aber er hat es gewußt, hat er behauptet – hatte schon seit langer Zeit gewußt, wo ich wohne. Hat gesagt, er wäre manchmal gekommen und hätte mich beobachtet. ›So leicht kommt man von der Vergangenheit nicht los‹, hat er gesagt. Warum ist er zu mir gekommen, Mister?« Jetzt schaute sie ihn direkt an, zum ersten Mal, seit sie vom Flughafen abgefahren waren. »Können Sie mir das sagen?«
    »Worüber wollte er mit Ihnen reden?«
    »Ich weiß es nicht. Ich wollte ihm nicht zuhören. Ich wollte nicht, daß er in meiner Wohnung ist und sich umschaut. Ich wollte seine Geschichten nicht hören. Er hat wieder angefangen, von seiner Zeit im Lager zu reden. Ich habe ihm ein paar Zigaretten gegeben, um ihn loszuwerden, und ihm gesagt, er soll verschwinden. Ich war müde, und ich mußte zur Arbeit.«
    »Zur Arbeit?«
    »Ich arbeite tagsüber im GUM. Abends studiere ich Jura. Nur ab und zu gehe ich nachts auf die Suche nach einem Freier. Weshalb? Ist das ein Problem?«
    »Sie führen ein ausgefülltes Leben.«
    »Mir bleibt nichts anderes übrig.«
    Er versuchte, sie sich hinter einem Tresen im GUM vorzustellen. »Was verkaufen Sie?«
    »Wie bitte?«
    »Im Kaufhaus. Was verkaufen Sie?«
    »Nichts.« Sie schaute wieder in den Rückspiegel. »Ich arbeite in der Telefonzentrale.«
    Als sie sich der Innenstadt näherten, geriet der Verkehr ins Stocken. Sie krochen nur noch langsam dahin. Vor ihnen hatte es einen Unfall gegeben. Ein klappriger Skoda war auf einen großen, alten Schiguli aufgefahren. Auf der Straße lagen Glasscherben und Metallfetzen. Die Miliz war bereits am Unfallort. Es sah aus, als hätte einer der Fahrer dem anderen einen Schlag versetzt: Er hatte Blutspritzer auf dem Hemd. Als sie die Polizisten passierten, wendete Kelso den Kopf ab. Der Stau löste sich auf. Sie konnten wieder schneller fahren.
    Er versuchte sich alles zusammenzureimen: Papu Rapawas letzte beide Tage auf Erden. Dienstag, 27. Oktober: Rapawa besucht seine Tochter zum ersten Mal seit Jahren, weil er, wie er behauptet, mit ihr reden möchte. Sie wirft ihn hinaus, speist ihn mit einer Schachtel Zigaretten und einem Streichholzheft mit dem Aufdruck ROBOTNIK ab. Am Nachmittag taucht er ausgerechnet im Institut für Marxismus-Leninismus auf und hört sich Fluke Kelsos Vortrag über Josef Stalin an. Dann folgt er Kelso zum Ukraina und sitzt die ganze Nacht bei ihm, trinkt und redet. Redet wie ein Wasserfall. Vielleicht hat er mir erzählt, was er seiner Tochter erzählt hätte, wenn sie ihm nur zugehört hätte.
    Und dann bricht der neue Tag an, und er verläßt das Ukraina. Inzwischen ist Mittwoch, der 28. Oktober. Und was tut er, nachdem er in der Morgendämmerung verschwunden ist? Geht er zu dem leerstehenden Haus in der Wspolny-Straße und gräbt das Geheimnis seines Lebens aus? Er muß es einfach getan haben. Und dann versteckt er es und hinterläßt seiner Tochter eine Nachricht, wo sie es finden kann (erinnerst Du dich an die Bude, die ich hatte, als Mama noch lebte?), und dann, am späten Nachmittag, fallen die Mörder über ihn her. Entweder hat er ihnen da alles erzählt, oder er hat es nicht getan, und wenn er es nicht getan hat, dann bestimmt zum Teil aus Liebe. Um dafür zu sorgen, daß das einzige, was er auf der Welt noch besaß, nicht sie bekamen, sondern seine Tochter.
    Gott, dachte Kelso, was für ein Ende! Welch einsame Art, aus dem Leben zu scheiden – und in welch grauenvoller Übereinstimmung mit allem, was vorausgegangen war.
    »Er muß Sie sehr geliebt haben«, sagte Kelso. Er fragte sich, ob sie wußte, wie der alte Mann gestorben war. Wenn das nicht der Fall war, würde er es jedenfalls nicht über sich bringen, es ihr zu sagen. »Er muß Sie sehr geliebt haben. Sonst hätte er Sie nicht aufgesucht.«
    »Das glaube ich

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