Aurora
erwarten.« Kelso stöhnte vor Anstrengung. Der Deckel öffnete sich einen Spaltbreit, gerade so weit, daß Kelso die Finger in die Öffnung schieben konnte. Dann nahm er seine ganze Kraft zusammen, um die beiden Kanten voneinander zu lösen. Der Deckel flog plötzlich mit dem Kreischen von oxidiertem Metall auf wie ein gebrochener Kiefer. »Es befindet sich nur ein Gegenstand darin… eine Art Mappe – anscheinend aus Leder –, ziemlich verschimmelt.«
Die Mappe war von einer dichten Pilzschicht überwuchert – einer Schicht aus verschiedenartigen Pilzen, blaßblauen, grauen und grünen, dazu pflanzlichen Fasern und weißen, schwarz gesprenkelten Flecken. Sie stank nach Fäulnis. Er hob sie aus dem Kasten heraus und drehte sie im Schein der Lampe um. Er rieb mit dem Daumen über die Oberfläche. Langsam wurde ein schwaches Bild sichtbar. »Hier sind Hammer und Sichel eingeprägt… Das läßt darauf schließen, daß es sich um irgendeine Art offizieller Dokumentenmappe handelt… Die Schließe ist geölt… Ein Teil des Rostes ist entfernt worden.« Er stellte sich vor, wie Rapawa mit seinen nagellosen Fingern an der Schließe herumfummelte, um herauszufinden, was ihn den größten Teil seines Lebens gekostet hatte.
Der Riemen ließ sich durch das rostnarbige Blech ziehen und hinterließ einen mehlartigen Rückstand. Kelso öffnete die Mappe. Die Pilzfäden, die sich von dem feuchten Leder ernährt hatten, waren bis in Innere vorgedrungen. Als Kelso den Inhalt herausholte, wußte er, daß dies, was immer es sonst sein mochte, echt war, daß kein Fälscher all dies hätte bewerkstelligen können oder auch nur zugelassen hätte, daß an seinem Werk ein derartiger Schaden angerichtet wurde: Das wäre widernatürlich gewesen. Was einmal ein Papierpacken gewesen war, hatte sich verklumpt, war angeschwollen und mit denselben zerstörerischen Pilzmetastasen durchzogen wie das Leder. Auch die Seiten des Notizbuchs hatten sich geworfen, aber nicht ganz so schlimm – eine glatte Außenschicht aus schwarzem Wachspapier hatte sie geschützt.
Der Deckel ging auf, der Rücken barst. Auf der ersten Seite: nichts.
Auf der zweiten Seite: ein Foto, säuberlich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und genau in der Mitte der Seite aufgeklebt. Eine Gruppe von jungen Mädchen, alle knapp unter zwanzig und in Sportkleidung – Turnhosen, Turnhemden, Schärpen –, die im Gleichschritt marschierten und ein Bild von Stalin mitführten. Allem Anschein nach eine Parade auf dem Roten Platz. Begleittext: Komsomol-Einheit Nr. 2 aus der Oblast Archangelsk beim Vorbeimarsch. Erste Reihe, von l. nach r. I. Primakowa, A. Safanowa, D. Merkulowa, K. Til, M. Arsenjewa… Über dem jugendlichen Gesicht von A. Safanowa war ein winziges rotes Kreuz eingezeichnet.
Kelso nahm das Notizbuch in die Hand und pustete, um die zweite Seite von der dritten zu lösen. Seine Hände schwitzten in den Handschuhen. Er kam sich auf absurde Weise ungeschickt vor, als versuchte er, mit Boxhandschuhen eine Nadel einzufädeln.
Auf der dritten Seite: Schrift, in schwachem Bleistift.
O’Brian berührte seine Schulter, drängte ihn, etwas zu sagen.
»Das ist nicht Stalins Schrift. Da bin ich ganz sicher… Es sieht eher so aus, als ob jemand etwas über Stalin geschrieben hätte.« Er hielt das Notizbuch dichter an die Lampe heran. »›Er steht abseits von den anderen, hoch oben auf dem Dach des Lenin-Mausoleums. Seine Hand ist zum Gruß erhoben. Er lächelt. Wir marschieren an ihm vorbei. Sein Blick fällt auf uns wie die Strahlen der Sonne. Er schaut mir direkt in die Augen. Ich bin erfüllt von seiner Kraft. Die Menge um uns herum bricht in stürmischen Applaus aus.‹ Die nächsten Zeilen sind unleserlich. Und dann steht da:›Der große Stalin hat gelebt! Der große Stalin lebt weiter! Der große Stalin wird immer leben!…‹«
14. Kapitel
… Der große Stalin hat gelebt! Der große Stalin lebt weiter!
Der große Stalin wird immer leben!
12.5.51
Unser Foto ist im Ogonjok! Maria kommt nach der ersten Stunde angerannt, um es mir zu zeigen. Ich gefalle mir darauf nicht, und Maria schimpft mich wegen meiner Eitelkeit aus. (Sie sagt immer, ich bildete mir zuviel auf mein gutes Aussehen ein: das gehöre sich nicht für eine Parteikandidatin. Sie hat gut reden – schließlich hat sie schon immer ausgesehen wie ein Panzer!) Den ganzen Vormittag kommen Genossen vorbei, um uns zu gratulieren. Darüber vergesse ich sogar die übliche Unpäßlichkeit dieser
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