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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Tage. Wir sind so glücklich…
     
    5.6.51
    Der Tag ist sonnig und heiß. Die Dwina ist pures Gold. Ich kehre vom Institut nach Hause zurück. Papa ist da, viel früher als sonst, schaut ernst drein. Mama ist so energisch wie immer. Ein Fremder ist bei ihnen, ein Genosse aus irgendeinem Parteiorgan, das dem Zentralkomitee in Moskau angegliedert ist! Ich habe keine Angst vor ihm. Ich weiß, daß ich nichts Unrechtes getan habe. Und der Fremde lächelt. Ein kleiner Mann – er gefällt mir. Trotz der Hitze trägt er einen Hut und einen Ledermantel. Dieser Fremde heißt, glaube ich, Mechlis. Er teilt uns mit, daß ich, aufgrund gründlicher Erkundigungen, für spezielle Aufgaben in Verbindung mit der höchsten Parteiführung auserwählt worden bin. Aus Sicherheitsgründen kann er nicht mehr sagen. Wenn ich annehme, muß ich nach Moskau fahren und ein, vielleicht zwei Jahre dort bleiben. Danach kann ich nach Archangelsk zurückkehren und meine Ausbildung fortsetzen. Er erklärt sich bereit, am nächsten Morgen wiederzukommen, um meine Antwort zu hören, aber ich liefere sie ihm sofort, von ganzem Herzen:
    Ja! Aber weil ich erst neunzehn bin, braucht er die Zustimmung meiner Eltern. O bitte, Papa! Bitte, bitte! Papa ist tief gerührt von dem ganzen Geschehen. Er geht mit dem Genossen Mechlis in den Garten. Als er zurückkehrt, hat er eine ernste Miene aufgesetzt. Wenn es mein Wunsch ist und die Partei es so will, wird er mich nicht hindern. Mama ist so stolz!
    Also nach Moskau, zum zweiten Mal in meinem Leben! Ich weiß, daß Seine Hand dahintersteckt.
    Ich bin so glücklich, daß ich sterben könnte…
     
    10.6.51
    Mama bringt mich zum Bahnhof. Papa hält sich im Hintergrund. Ich küsse ihre lieben Wangen. Leb wohl, Mama, leb wohl, Kindheit. Die Wagen sind überfüllt. Der Zug setzt sich in Bewegung. Andere Leute rennen auf dem Bahnsteig neben ihm her, aber Mama bleibt still stehen und ist bald nicht mehr zu sehen. Wir überqueren den Fluß. Ich bin allein. Arme Anna! Und das sind die schlimmsten Tage zum Reisen. Aber ich habe meine Kleider, etwas zu essen, ein oder zwei Bücher und dieses Notizbuch, in dem ich all meine Gedanken festhalten werde – es wird mein Freund sein. Wir fahren südwärts durch den Wald, durch die Tundra. Ein großer, roter Sonnenuntergang gleißt wie Feuer durch die Bäume. Isakogorka. Oboserski. Jetzt habe ich erst mal alles niedergeschrieben, was bis bisher passiert ist, und nun ist es zu dunkel zum Schreiben.
     
    11.6.51 Montag morgen. In der Dämmerung erreichen wir die Stadt Woschega. Passagiere steigen aus, um sich die Beine zu vertreten, aber ich bleibe, wo ich bin. Vom Gang her kommt ein Geruch nach Rauch. Ein Mann beobachtet mich vom gegenüberliegenden Sitz aus beim Schreiben, tut aber so, als schliefe er. Er ist neugierig. Wenn er nur wüßte! Und immer noch elf Stunden bis Moskau. Wie kann ein einzelner Mann solch ein Land regieren? Wie kann ein solches Land ohne die regierende Hand eines derartigen Mannes existieren?
    Konoscha. Charowsk. Suschona. Namen, die ich nur von der Landkarte kannte, werden für mich wirklich.
    Wologda. Danilow. Jaroslawl.
    Angst hat mich gepackt. Ich hin so weit von zu Hause fort. Beim vorigen Mal waren wir zu zwanzig – alberne, lachende Mädchen. O Papa!
    Alexandrow.
    Und jetzt erreichen wir die Außenbezirke von Moskau. Ein Zittern der Aufregung geht durch den Zug. Die Wohnblöcke und Fabriken erstrecken sich so lang und breit wie die Tundra. Ein heißer Dunst aus Metall und Rauch. Der Juni ist hier viel heißer als zu Hause. Ich bin wieder aufgeregt.
    4.30 Uhr! Jaroslawler Bahnhof! Und was nun?
    Später. Der Zug hält, der Mann mir gegenüber lehnt sich vor.
    »Anna Michailowna Safanowa?« Einen Augenblick lang bin ich zu verblüfft, um etwas sagen zu können. Ja? »Willkommen in Moskau. Kommen Sie bitte mit.« Er trägt einen Ledermantel, genau wie der Genosse Mechlis. Er trägt meinen Koffer den Bahnsteig entlang bis zum Ausgang am Komsomolskaja-Platz, Dort wartet ein Fahrer mit einem Wagen. Wir fahren lange Zeit. Mindestens eine Stunde. Ich weiß nicht, wohin. Quer durch die Stadt, wie mir scheint, und wieder aus ihr heraus. Eine Landstraße entlang, die zu einem Birkenwald führt. Da ist ein hoher Zaun, Soldaten, die unsere Papiere kontrollieren. Wir fahren ein Stückchen weiter. Noch ein Zaun. Und dann ein Haus in einem großen Garten.
    (Und ja, Mama, es ist ein bescheidenes Haus! Nur zwei Stockwerke. Dein gutes Bolschewistenherz würde über

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