Aurora Komplott (Thriller) (German Edition)
ging er dann jeden
vollzogenen Ermittlungsschritt noch einmal zurück, zurück bis zum
Ermittlungsansatz, fand oft neue Pfade, die häufig zum Täter führten. Heute
aber konnte er sich nicht konzentrieren, nicht mehr klar denken. Die erste
Erinnerung an gestern Nachmittag gebar immer neue Gedanken und blockierten die
kriminalistischen Überlegungen, deretwegen er in seinem Büro geblieben war.
Immer die gleichen Teufel schlichen sich in seinen Kopf und ließen keine klare
Analyse des bisherigen kriminellen Ablaufs der Mordgeschehnisse zu. Rebecca
sirrte durch jede Faser seines Körpers. Hanson wünschte, dass sich seine
Erinnerungen des gestrigen Abends aus seinem Bewusstsein verflüchtigten. Es gelang
ihm nicht. Immer wieder lief der gleiche Film in seinem Kopf ab. Immer wieder
sah er Rebecca vor sich, wie sie auf ihn vor der kleinen Kapelle wartete und
ihn begrüßte. „Ich bin hier, um meine Schuld einzulösen. Ich versprach doch,
dass Sie bei mir noch einen Kaffee guthaben“, und ihn dann wie
selbstverständlich unterhakte. Noch jetzt spürte Hanson die erstaunten,
vielleicht auch neidischen Blicke seiner Kollegen, die ihm nach der Beerdigung
aus der Kapelle folgten, in seinem Nacken. Mit Rebecca an seiner Seite, fühlte
sich Hanson geschmeichelt und geschmückt, wusste er doch, um die pikante
Sprache ihrer Hüften. Nach wenigen hundert Metern standen sie beide erst vor
Rebeccas Hauseingang, dann vor ihrer Wohnungstür. Im Flur, nach dem ersten
Kuss, richtigen Kuss, duzten sie sich. Hanson erinnerte sich, wie sich seine
verdammte Hemmung löste, die ihn immer in ihrer Gegenwart lähmte. Nur sein
ständiges Schlucken gegen den trockenen Rachen, konnte er auch gestern nicht
unterdrücken. Auch jetzt trocknete seine Kehle wieder aus, zu stark waren die
Erinnerungen an den gestrigen Tag.
Beim Kaffee mit Rebecca gelang es ihm sogar, ein
Smalltalk mit ihr zu führen, der weniger gestelzt als sonst wirkte. Sie zeigte
großes Interesse an seiner Arbeit. Er aber verlor sich in oberflächlichen
Plänkeleien, wollte nicht in voller Breite und Tiefe von seinem Job erzählen,
was sie in der Folge nur noch neugieriger werden ließ. Dann nahm er sie an
beiden Schultern und zog sie zart etwas näher an sich heran und hörte sich
wieder sagen: „Rebecca, die Tür zu dieser Welt möchte ich dir nicht öffnen, im
Gegenteil, sie sollte für dich geschlossen bleiben. Es wird für uns beide
besser sein“.
„Oh, wie zärtlich du die Worte „uns beide“
betont hast“, flötete Rebecca daraufhin mit honigsüßer Stimme.
Hanson ärgerte sich heute über seine
Erschrockenheit, als er gestern zu ahnen begann, dass es nicht beim Kaffee
bliebe, ginge er nicht sofort. Auf ein intimes Tête-à-tête war er nicht
vorbereitet. Er fühlte sich durchgeschwitzt. Sah sich wieder verstohlen zur
seiner Uhr blicken und nach einer Entschuldigung suchen, die plausibel für
einen sofortigen Abgang war.
„Dag, du willst mich doch jetzt nicht alleine
lassen?“, war ihre Reaktion.
Seine Antwort, wie gerne er bliebe und genau
deswegen gehen müsse, kam ihm jetzt mehr als lächerlich vor. Und wegen der
Lüge, noch einen Termin mit einem Wissenschaftler des Landeskriminalamtes
wahrnehmen zu müssen, schämte er sich.
Das Verlangen, Rebecca in den Arm zu nehmen,
ihre weichen Rundungen zu spüren, schmerzte heute wie auch gestern.
Sein plötzlicher Abschied, fürchtete Hanson,
wirkte gestern ein wenig spröde. Vor ihrer Haustür, blickte er nach oben und
sah Rebecca am Fenster. Sie formte ihre Lippen zu einem Kuss und winkte ihm zu.
Kapitel 19
Kiel, Rotlichtviertel, Freitag, 14.04.1995,
08.20 Uhr
Long Tail, der Kietzmacho, hatte sich in seinem
Leben mehr auf seinen Instinkt als auf seinen Verstand verlassen. Aber dumm war
er nicht. Wären die üblichen Intelligenztests auf andere Fähigkeiten
ausgerichtet, würde sein IQ weit über dem Durchschnitt liegen. Seit frühester
Kindheit waren seine Jahre durch den Überlebenskampf in der Sowjetunion
geprägt. Als junger Erwachsener formte ihn der Krieg in Afghanistan und später
die Konfrontationen mit der Polizei, erst in Russland und dann in Deutschland.
Sein scharfer Instinkt war mit den Jahren in Deutschland erlahmt und einer
stupiden Naivität gewichen. Wirklich gefährlich war seine Unberechenbarkeit
gepaart mit der jähzornigen Brutalität, mit der er im Milieu Angst und
Schrecken verbreitete. Seine Körpergröße und seine stets bunte Garderobe, einem
großen und schillernden
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