Aurum & Argentum (German Edition)
bald von einem anderen Ehepaar adoptiert werden sollte. Das Rätselraten ging also weiter, jedes Kind hätte es sein können. Bald schon hatte ich einen neuen Verdacht, diesmal war es ein Junge. Er war auch tatsächlich einen Kopf größer als ich und er entstammte wohl einer Zaubererfamilie. Seine Kartentricks beeindruckten mich schon ein bisschen, aber leider war er auch ein richtiger Angeber, neunmalklug und sehr vorlaut – noch schlimmer als du.“ Flux machte eine kurze Pause und erwartete wohl eine Reaktion von Calep, doch der biss sich geistesgegenwärtig auf die Zunge. Denn in diesem Fall war reden Silber und schweigen Gold.
„ Es stellte sich heraus, dass er bei meinen Eltern nicht in die engere Wahl gekommen war. Man wollte ihn sowieso bald auf ein Magierinternat schicken und dieses war viel zu weit weg von unserem Haus. Ich konnte gut auf einen Bruder verzichten, der zwar auf dem Papier mein Bruder war, aber ansonsten nie anwesend.“
Calep nickte verständig, er hätte wohl auch so gedacht.
„ Wir gingen also weiter über das Gelände, mein Vater unterhielt sich die ganze Zeit mit einer Erzieherin, doch ich hörte gar nicht hin. Ich wollte endlich meinen zukünftigen Bruder kennen lernen! Ich war schon ganz zappelig, als ich endlich Leon entdeckte. Er spielte gerade mit ein paar kleineren Kindern ‚Drache und Ritter’. Er war der Drache und wurde gejagt, als er stolperte und hinschlug, steckte er den Schmerz weg, um den Kindern den Spaß nicht zu verderben. Danach ließ er sich widerstandslos von den Rackern gefangen nehmen. Sie kitzelten ihn unbarmherzig und dann tanzten sie jubelnd um ihn herum, während er sich gekonnt tot stellte. ‚Der oder keiner!’, sagte ich gleich als ich ihn bemerkte. Meine Mutter nahm mich plötzlich in den Arm, drückte mich an sich und flüsterte: ‚Genau das habe ich auch gesagt, als ich ihn zum ersten Mal sah’. An einen noch schöneren Tag in meinem Leben kann ich mich nicht erinnern.“
Wieder legte er eine Pause ein und Calep versuchte, sich das Ganze vorzustellen, es rührte ihn fast zu Tränen.
„ Egal was du sagst, er ist der beste Bruder der Welt! Er ist kein Feigling … er ist nur … nett.“
„ In der Tat“, und dabei ließ es sein Kumpan für den Augenblick bewenden.
Noch einmal warf sich Leon herum, diesmal schreckte auch Beelzebub aus seinen Träumen hoch, sofort fing er an zu plärren und dies wiederum ließ den Verursacher des Ganzen aufwachen.
„ Wieder derselbe Nachtmahr?“
Leon nickte stumm und strich dem Koboldkind beruhigend über den Rücken, so lange, bis es anfing zu schnurren und wieder eindöste.
„ Wir sollten uns auch noch ein wenig aufs Ohr legen“, stellte Calep gähnend fest und hatte damit auch einmal ein wahres Wort gesprochen.
Um Flux zu beruhigen, tat auch Leon so, als sei er wieder eingeschlafen, doch in Wahrheit tat er kein Auge mehr zu. Seine Feuer-Phobie machte ihm schon ewig zu schaffen und sie nahm nicht ab, diese Furcht tief in ihm drin, im Gegenteil sie wurde immer stärker, seitdem er den Bauernhof seiner Adoptiveltern hinter sich gelassen hatte. Er wusste genau, dass er etwas unternehmen musste, damit sie nicht krankhafte Ausmaße annahm. Doch zu dieser Stunde wusste er nicht, wie er vorgehen konnte, so sehr er auch nachdachte. Es war hoffnungslos.
„ Angst haben wir alle“, drang da eine tiefe Stimme an sein Ohr. Zwischen Sträuchern und Farnen lag ganz in der Nähe Salazar und zwar schon lange genug, um alles mitzubekommen. „Man muss sich ihrer nicht schämen, denn sie ist eigentlich sehr nützlich. Sie hilft den Pflanzenfressern zu überleben. Hätten sie keine Angst, so würden sie nicht fliehen und der Jäger hätte leichtes Spiel. Beim Raubtier wiederum verhindert die Angst, dass es übermütig wird. Sogar ich habe schon Angst gehabt. Ich bin groß und Furcht einflößend, wirst du dir sagen und du hast vermutlich Recht. So wirke ich auf viele Bewohner dieser Welt, aber bei Weitem nicht auf alle. So mächtig du auch bist, es gibt immer noch einen Mächtigeren. Das ist eine sehr alte Weisheit aus dem fernen Osten. Doch ich bin nicht hier, um dir Angst zu machen.“ Er räusperte sich und suchte nach dem roten Faden, den er ein wenig aus den Augen verloren hatte. „Wo wir gerade bei alten Weisheiten sind, ich kenne noch eine und diese könnte dir wirklich weiterhelfen: dem Furchtbaren furchtlos begegnen, so verschwindet es von selbst.“
Leon war so schlau wie zuvor, so ganz verstanden
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