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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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entscheide meine Leber, ob ein und derselbe ein möglicher Mensch oder ein Schwein ist, und nachher verhalte ich mich trotzdem danach.

151 31.5.
     
    Checkpoint Charlie.
    ( – einmal genau beschreiben!)

152 4.6.
     
    Wieder einmal packen … Bilanz der vier Monate Berlin: dass die Zeit vergeht.
     
    –
     
    Gestern Abend allein mit Uwe; Elisabeth im Spital (Blinddarm-Notoperation). Er ist schwierig zu verstehen, oft überhaupt nicht; sein Assoziations-System (vorallem nach der zweiten Flasche Weisswein) bleibt mir verschlossen, dazu noch seine Verschlüsselungen, er spricht Kreuzworträtsel, kopfüber in Kommentare zu Sachverhalten, die er kaum mit einem Stichwort einführt und die man aus dem Kommentar erst rekonstruieren muss. Oft ist es schade, ich verstehe erst hinterher, wovon die Rede gewesen ist. Seine Ironie; dann halte ich wieder für Ironie, was keine ist, und er erschrickt, und umgekehrt. Ein Logiker und dann völlig irrational. Er weiss Fakten, Fakten, Fakten und fingiert unversehens. Dazwischen die Schübe von moralischem Rigorismus. Über Eheleute, über Arbeit und Einkommen. Er richtet: ohne Zorn, was ihn noch unerbittlicher macht, nicht selbstgerecht. Ein Puritaner, alles andere als kleinkariert. Ein Nordmann, der nichts auf die leichte Schulter nimmt. Hart und herzlich. Und voll Fantasie, die sich spontan formuliert. Ein Kopf, in dem unentwegt etwas vor sich geht und sehr rasch. Dabei kann er zuhören; er hört sofort etwas heraus, Anspielungen, die ich nicht gemacht habe, und geht darauf ein. Er unterstellt Gedankenfülle, die im Augenblick nicht da ist. Seine Erschreckbarkeit; er wähnt immer etwas, sieht eine Geste und deutet sie, fürchtet, er habe mich gekränkt und bedauert, fühlt sich in seiner Zuneigung missverstanden. 153 Er wird vierzig; es beschäftigt ihn, es verrät sich indirekt. Sein Selbstwertgefühl ist kein behagliches Selbstwertgefühl; alles andere als Arroganz (was ihm seit der Jugend vorgeworfen wird), es manifestiert sich in seinen Massstäben, die nicht übernommen sind, sondern zu ihm gehören. Er inszeniert sich nicht auf diese oder jene Aura; er hat Format, das ihn nicht verlässt. Er braucht Alkohol, ein Mensch unter dem Überdruck seiner Gewissenhaftigkeit. Was bei Alkohol (drei oder vier Flaschen Weisswein im Lauf des Abends) zum Vorschein kommt, entlarvt ihn nicht; er erscheint als Verwundeter, aber nicht kleiner. Seine Erscheinung, die Robustheit seines Körpers, seine Denk-Disziplin, seine enorme Sensibilität. Einiges hat damit zu tun, dass er sich für hässlich hält, nicht attraktiv für Frauen. Die Zärtlichkeit im Umgang mit seinen Roman-Gestalten. Sympathie macht ihn nie kumpelhaft, unter Umständen aber männlich-zärtlich bei einer präzisen Schamhaftigkeit. Was gefährlich werden kann: er schaltet wahnhaft, nimmt seine Assoziationen für die Aussage des andern. Und dazu sein Gedächtnis: indem er sich genauer an Nebensachen erinnert (wo man gestanden hat, wann es gewesen ist usw.) und den andern dadurch unsicher macht, befestigen sich ihm auch seine Unterstellungen, seine Interpretationen; er dichtet, er interpoliert und zwar so klug, dass ich mit meiner Erinnerung, die Lücken hat, nicht dagegen aufkomme. Ich weiss nur, dass ich es so nicht erlebt habe. Er vergrössert. Eine Bagatelle (Bagatelle für mich) bekommt Gewicht, oft auch Glanz; er schafft Bedeutung, die er dann durch Zitat belegt, und das Zitat mag ja stimmen. Man kommt sich vor wie eine Gestalt unter den Händen eines starken Autors, eines Dichters, der hartnäckig so tut, als rapportiere er bloss. Als er für 154 einen Augenblick hinausgeht, verkorke ich meine Flasche, um nicht weiter zu trinken, und stelle sie hinter den Fernseher; als er wieder hereinkommt, sagt er sofort: es fehlt eine Flasche. Ein Detektiv ersten Ranges. Als ich ein Streichholz in den Aschenbecher lege, wo ein Zigarettenstummel liegt, nimmt er den Stummel weg, sagt: Ich habe Sie nicht daran erinnern wollen, dass Marianne gegen Ihren Wunsch wieder raucht. Ich dachte etwas ganz anderes; aber er ist nicht abzubringen davon, dass er gesehen habe, woran ich im Augenblick gedacht habe. Er sagt: Sie haben den Kampf verloren. Welchen Kampf? Er sagt: Sie wollten nicht, dass Marianne wieder raucht, und haben einen Machtkampf daraus gemacht. Das nebenbei.
     
    –
     
    Wohnung übergeben an Ernst Jandl und Friederike Mayröcker , die den Sommer in Berlin verbringen wollen.
     
    –
     
    Noch eine Hepatitis! und es bleibt von

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