Aus Dem Dunkel
sich überhaupt nicht wie er. Er war geduldig, aufmerksam und dachte mit – alles Wesenszüge, die er in früheren Jahren nie an den Tag gelegt hatte.
Der alte Gabe hatte sich außerdem geweigert, an Mallorys Therapiesitzungen teilzunehmen. Helen wollte sich nicht desselben Vergehens schuldig machen, also legte sie die Zeitschrift beiseite und griff nach ihrer Handtasche.
Gabe wartete im Sprechzimmer des Arztes. Er hatte sich den unbequemsten Stuhl im Raum ausgesucht und saß da, als hätte er einen Besenstil verschluckt, die Arme hielt er vor der Brust verschränkt. Kein Wunder, dass Dr. Terrien sie um Hilfe gebeten hatte.
Als Helen eintrat, warf Gabe ihr einen flehenden Blick zu. Er sah so schrecklich unglücklich aus, dass sie Mitleid bekam. Zu ihrer eigenen Überraschung setzte sie sich auf den Stuhl, der Gabes am nächsten stand, und warf ihrem Mann ein aufmunterndes Lächeln zu.
Dr. Terrien saß ihnen gegenüber in einem Lehnstuhl. Er hatte sich vorgebeugt und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er war ein großer Mann von kantiger Statur mit grau melierten Locken und buschigen Brauen. Die Farbe seiner Augen glich der des Ozeans an einem wolkenverhangenen Tag.
»Mrs Renault«, begann der Arzt, »Ihr Mann hat mir gerade berichtet, woran er sich noch erinnert, und offenbar beginnen seine Gedächtnislücken ungefähr mit der Zeit, in der er Sie kennengelernt hat. Ich hoffe nun, dass Sie die Lücken schließen können. Ob er sich selbst daran erinnert oder nicht, ist im Moment nicht so wichtig. Es geht eher darum, ihm einen Überblick zu verschaffen. Er hat mir gerade von den Jahren erzählt, die er in Annapolis verbracht hat.«
Helen atmete einmal tief durch. Okay , dachte sie, wenn es weiter nichts war . Sie konnte Gabes Vergangenheit ein wenig Farbe verleihen, ohne dabei zu entlarven, dass sie damals so naiv gewesen war, zu glauben, er wäre ihr Prinz und würde ihr Leben zu einem einzigen Märchen machen.
»Annapolis«, nahm sie das Stichwort des Arztes auf. »Du erinnerst dich an deine Kurse?« Sie stellte Gabe diese Frage, der die Stirn in Falten legte und nickte. »Einer deiner Ausbilder hieß Commander Troy«, fuhr sie fort. »Erinnerst du dich auch an ihn?«
Wieder nickte Gabe, und sein Gesichtsausdruck wurde deutlich entspannter. »Sicher«, sagte er. »Marinegeschichte. Er war derjenige, der mich ermutigt hat, zu den SEAL s zu gehen.«
»Du warst sein Lieblingsschüler«, erklärte Helen und bemühte sich, nicht spöttisch zu klingen. »Älter und erfahrener als die anderen. Er hat dich offensichtlich davon überzeugt, am BUD /S-Training teilzunehmen, Lehrgang 223 in Coronado, und du warst einer der sechzehn, die die Abschlussprüfung schließlich bestanden haben. An all das erinnerst du dich?«
»Ja«, erklärte Gabe lapidar.
»Dann erinnerst du dich auch daran, wieder an die Ostküste versetzt worden zu sein«, fügte sie hinzu.
»Auch das weiß ich noch«, erklärte er mürrisch. »Aber ich habe im BOQ gelebt.«
»Damals ja«, stimmte sie zu. »Aber im Sommer darauf bist du zurück nach Annapolis gefahren, um Commander Troy zu besuchen.«
Sein Blick glitt über ihr Gesicht wie ein Suchscheinwerfer. Es war deutlich, dass er diesen Teil vergessen hatte.
Helen machte weiter und hielt sich so genau an die Fakten, wie es nur möglich war. »Bei dieser Gelegenheit hat er dich mit seiner jüngsten Tochter bekannt gemacht – und so haben wir uns kennengelernt.«
Sie konnte Gabe anmerken, dass er in Gedanken ihren Vor- und Nachnamen zusammensetzte, denn er kniff leicht die Augen zusammen. Helen Troy – die schöne Helena. Ja, ihr Vater liebte die Klassiker – wenngleich es seiner Tochter nie gelungen war, ihrem Namen gerecht zu werden, es sei denn, man bezog ihn auf die Anzahl der Schiffe, die vor ihr davongesegelt waren.
»Jedenfalls«, fuhr sie fort, um diese lästige Pflicht möglichst schnell hinter sich zu bringen, »haben wir nach wenigen Monaten geheiratet. Dann kauften wir das Haus in Sandbridge. In den ersten zwei Jahren warst du insgesamt vielleicht sechs oder acht Monate zu Hause … Im letzten Jahr dann … « Sie zuckte mit den Schultern und hoffte, dadurch deutlich zu machen, wie kurz und ereignislos ihre Ehe gewesen war, sodass man sich nicht wundern musste, dass er sie vergessen hatte.
Sie sah zu Dr. Terrien hinüber, der ihr mit aufmerksamem Blick immer noch genau zuhörte. »Mrs Renault«, fragte er, »welchen Eindruck hat Gabriel auf sie gemacht, als sie ihn zum ersten
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