Aus Dem Dunkel
Nordkorea müsse sich erst den Forderungen der Vereinten Nationen unterwerfen, bevor es finanzielle Unterstützung von den USA erhalte. Neuesten Einschätzungen nach wird in diesem Jahr einer von drei Nordkoreanern verhungern, sollte die humanitäre Hilfe nicht wiederaufgenommen werden.«
Gabe war bewusst, dass es in den Nachrichten inzwischen um andere Meldungen ging, aber er saß unbeweglich auf der Couch, als hätte sich das Bild von Kim Jong-il in seine Netzhaut eingebrannt. Er hatte dieses Gesicht so oft angestarrt, dass er jede Linie, jede Falte darin kannte. Eine Gänsehaut zog sich über Gabes Unterarme und breitete sich weiter aus. Einer von drei Nordkoreanern wird in diesem Jahr verhungern . Die Worte des Nachrichtensprechers hallten in seinem Kopf wider. Er schauderte.
Die Hungersnot, die in Nordkorea herrschte, war für ihn von Bedeutung. Sie kam ihm bekannt vor. Sie war etwas, an das er sich erinnerte.
Er spürte, wie sich seine Muskeln anspannten und er sich versteifte. Er hörte, wie sein Atem schwerer wurde, fühlte, wie er die Fäuste ballte. Er durchforstete sein leeres Gedächtnis, fand jedoch nichts als vage graue Schatten – trügerische Bilder, die so kurz aufblitzten, dass er sich nicht entsinnen konnte, was sie zeigten. Dabei war es wichtig. Jesus, er musste sich unbedingt erinnern!
»Dad!« Mallorys Stimme durchdrang den Nebel in seinem Kopf, der ihn zu umhüllen schien. »Bist du okay?«
Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter, was ihn in die Gegenwart zurückholte.
Helen kam herübergeeilt und stellte sich hinter ihre Tochter.
Gabe atmete einmal tief durch. Er fühlte sich verschwitzt. »Ja, ich bin okay.« Mühsam rappelte er sich auf. Einen Moment lang glaubte er, sich übergeben zu müssen. Wie erstarrt blieb er stehen. Der Geruch von verbrannten Schweinekoteletts drang ihm in die Nase.
Helens Gesicht verschwamm vor seinen Augen. »Ich rufe einen Arzt«, erklärte sie und lief zum Telefon.
»Nein«, erwiderte er und winkte sie zurück. »Es war nur ein Flashback. Man hat mir gesagt, dass es dazu kommen könne. Es geht mir gut.«
Sie musterte sein Gesicht. »Hast du dich an etwas erinnert?«
Ihre Besorgnis ermutigte ihn. Oder wollte sie einfach nur, dass die momentane Situation ein Ende hatte, damit sie sich wieder ihrem eigenen Leben zuwenden konnte? »Nicht wirklich.« Er dachte daran, was er in den Nachrichten gehört hatte, und rieb sich angestrengt die Stirn. »Aber an irgendetwas muss ich mich doch erinnern.«
»Das wirst du«, versicherte sie ihm und berührte ihn leicht am Arm. »Streng dich nicht so an. Das kommt von ganz allein.«
Er dachte an den Krebs, den er am Nachmittag versucht hatte, aus dessen Bau zu ziehen. Er war sich auf einmal nicht mehr so sicher, ob er genügend Zeit haben würde, seine Erinnerungen zurückzuholen.
Helens Handfläche fühlte sich warm und weich an. »Es riecht lecker«, log er. »Lasst uns was essen.«
Der überraschte, aber freudige Ausdruck in ihrem Gesicht ging ihm für den Rest des Abends nicht mehr aus dem Sinn.
»Mrs Renault, würden Sie zu uns kommen?«
Helen blickte auf, sie hatte gerade mit gerunzelter Stirn einen Artikel darüber gelesen, wie man einen Steingarten anlegte. Dr. Noel Terrien stand in der Tür zu seinem Sprechzimmer, die zuvor einige Zeit geschlossen gewesen war. Helen hatte sich darauf eingestellt, die ganze Stunde im Wartezimmer zu verbringen. Sie war völlig überrascht, dass sie nun gebeten wurde, an Gabes Therapie teilzunehmen.
»Es wäre sehr hilfreich für Ihren Mann, wenn Sie von Zeit zu Zeit bei unseren Sitzungen dabei wären«, fügte der Arzt freundlich hinzu.
Oh, nicht doch! Es quälte sie immer noch, dass sie das Büro hatte früher verlassen müssen. Die Arbeit, die an ihrem freien Tag liegen geblieben war, stapelte sich auf ihrem Schreibtisch, und sie hatte noch nicht einmal damit anfangen können. Den festen Tagesablauf, den sie während Gabes Abwesenheit so genossen hatte, konnte sie jetzt vergessen. Wieder drehte sich die ganze Welt nur noch um ihn.
Sofort tadelte Helen sich dafür, so unsensibel zu sein. Für Gabe selbst war seine Situation mehr als nur ein wenig unpraktisch. Sie sollte ihn mehr unterstützen. Je eher er sich erholte, desto eher konnte sie sich wieder ihrem eigenen Leben widmen.
Auf der anderen Seite lag ihr nicht besonders viel daran, den alten Gabe zurückzubekommen. Der Mann, den sie aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, sah vielleicht aus wie Gabe, aber er verhielt
Weitere Kostenlose Bücher