Aus Dem Dunkel
grau melierten Augenbrauen. »Es ist noch ein wenig zu früh, um dazu etwas Genaues sagen zu können«, erwiderte er aufrichtig.
»Was vermuten Sie denn?«, beharrte Gabe.
Helen richtete ihren Blick wieder auf den Arzt. Wenn Gabe Antworten verlangte, überschlugen sich die Leute in der Regel förmlich, um sie ihm zu verschaffen.
Doch Dr. Terrien schüttelte den Kopf. »Es ist einfach zu früh«, wiederholte er. »Ihre Erinnerung könnte schon morgen vollständig wiederhergestellt sein. Es könnte aber auch noch Jahre dauern. Und wie ich schon bemerkte, haben wir keinerlei Möglichkeit, herauszufinden, ob ihre Amnesie das Ergebnis einer Verletzung, von emotionalem Stress oder von beidem ist. Aber mithilfe Ihrer Frau … «, Dr. Terrien warf Helen einen undurchdringlichen Blick zu, »… werden wir alles tun, um zumindest die früheren Erinnerungen zurückzuholen.«
Helen zog sich der Magen zusammen. War das eine Eheberatung? Sie hatte überhaupt kein Interesse daran, die alten Zeiten wieder aufzuwärmen. Sie wollte endlich ihr eigenes Leben führen.
In einem Anflug von Rebellion sprang sie auf. Doch man hatte ihr von klein auf Folgsamkeit eingetrichtert, und so verpuffte ihr Widerstand schnell, und Helen blieb wie angewurzelt stehen.
»Haben Sie Ihre Rezepte?«, erkundigte sich der Arzt bei Gabe.
»Ja«, antwortete dieser und erhob sich langsam, die Therapiestunde schien ihn sehr erschöpft zu haben.
»Tagsüber nehmen Sie Dexamphetamin«, erklärte der Arzt und stand ebenfalls auf. »Das macht Sie munter und hilft Ihnen, sich zu konzentrieren.«
»Ich hab’s schon genommen«, erklärte Gabe und gab dem Arzt die Hand.
Auch Helen verabschiedete sich und ging hinaus. Im Wartezimmer riss sie noch schnell den Artikel über Steingärten aus der Zeitschrift und verstaute ihn in ihrer Handtasche. Eines Tages, wenn sie wieder Zeit für sich hatte, würde sie sich damit befassen.
Sie bemerkte, dass Gabe ihr die Tür aufhielt. Sie eilte hindurch und bedankte sich bei ihm, obwohl sie schon vor langer Zeit gelernt hatte, dass man solche Umgangsformen beim Militär beigebracht bekam. Es hatte nichts damit zu tun, dass Gabe besonders aufmerksam sein wollte.
Draußen wurden sie von der Sonne geblendet. Helen setzte ihre Brille auf, Gabe kniff die Augen zusammen. Sobald sie im Jaguar saßen, drehte Helen die Klimaanlage auf und schaltete das Radio ein, damit sie nicht gezwungen waren, sich zu unterhalten. Schweigend fuhren sie zurück nach Sandbridge.
Helen dachte darüber nach, was der Arzt ihnen gesagt hatte. Und je länger sie darüber nachdachte, desto besorgter wurde sie. Dr. Terrien schien tatsächlich vorzuhaben, sie die beiden Jahre ihrer Ehe aufarbeiten zu lassen. Sie selbst dagegen wollte diese schmerzhafte Zeit unbedingt vergessen. Und so beschloss sie, dass Mallory es übernehmen sollte, mit Gabe die Fotoalben durchzugehen.
Sie erreichten gerade die Uferstraße, als Gabe sich auf einmal in seinem Sitz zu ihr herumdrehte und sie ansah.
Helens Herz begann sofort, schneller zu schlagen. Sein direkter Blick löste ein angespanntes Gefühl auf ihrer Haut aus.
»Wer war Mallorys Vater?«, fragte er und überraschte sie mit seinem ungebrochenen Interesse.
»Sein Name war Zach Taylor. Ich bin zu Collegezeiten mit ihm ausgegangen.«
»Und?«, hakte er nach.
»Und nichts . Er hat mich wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen, als er herausfand, dass ich schwanger war. Meine Eltern waren entsetzt und haben darauf bestanden, dass ich Zach keinerlei väterliche Rechte zugestehe. Er war nur allzu bereit, die entsprechenden Papiere zu unterschreiben.«
»Warum haben deine Eltern so reagiert?«, fragte Gabe.
Helen stieß ein trockenes Lachen aus. »Zach war dabei, sein Leben wegzuwerfen. Obwohl er ein brillanter Kopf war, flog er vom College, weil er der Meinung war, dass seine Lehrer alle Idioten seien. Er behielt keinen Job lange, weil er fand, auch sämtliche seiner Vorgesetzten seien Idioten. Er war wirklich der allerletzte Mensch, von dem meine Eltern gewollt hätten, dass er eine Rolle in meinem oder in Mallorys Leben spielte.«
Sie schwiegen eine Weile. »Das muss eine ziemlich beschissene Situation gewesen sein«, meinte Gabe schließlich voller Mitgefühl.
Helen warf ihm einen überraschten Blick zu. Gabe schenkte den Gefühlen anderer selten Beachtung. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab’s überstanden«, bemerkte sie. Das stimmte zwar, allerdings hatte sie dabei einen weiteren Fehler begangen,
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