Aus Dem Dunkel
noch deutlich besorgt. Schon fast an ihm vorbei stellte sie sich noch einmal auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Schlaf gut«, fügte sie hinzu, sauste den Flur hinunter und verschwand in ihrem Zimmer.
Wenige Augenblicke später lag Gabe auf seiner Couch und dachte darüber nach, wie Mallory auf seine Narben reagiert hatte. Seine Lider fühlten sich schwer und verklebt an. Im Geiste sah er seine Stieftochter, von deren Gesicht Entsetzen und Mitgefühl abzulesen gewesen waren.
Sie hatte die Male nicht so fürchterlich abstoßend gefunden. Sie schien sie eher zu akzeptieren, vielleicht brachte sie ihm sogar mehr Respekt entgegen, weil er durch die Hölle gegangen war. Sie hatte ihm sogar ein Küsschen gegeben.
Was würde Helen tun, wenn sie erführe, was dieses letzte Jahr ihn gekostet hatte? Vielleicht würde sie ihm dann verzeihen, wie ihre Tochter es getan hatte.
Es war sein letzter Gedanke, bevor er über den Rand einer imaginären Klippe in tiefen bleiernen Schlaf fiel.
Wieder kam er zu spät zu seinem Termin mit Dr. Terrien. Sanft hatte Helen ihn wachgerüttelt und mit ihm gesprochen: »Gabe, ich bin es, Helen. Es ist Zeit, du musst aufstehen.« Weil er sich unbedingt noch Eis zur Kühlung auf seine Schulter hatte legen wollen, war er noch später zur Tür herausgekommen. Mallory hatte keine Sekunde damit gezögert, ihrer Mutter von seiner Verletzung zu erzählen.
»Wie ist das passiert?«, wollte Helen wissen, als er ihr das Kühlpäckchen aus der Hand nahm. Zu seiner Enttäuschung klang sie nicht im Entferntesten so mitfühlend wie Mallory. Und sie gab ihm auch keinen Kuss, damit es besser wurde.«
»Ein blöder Unfall«, murmelte er. Seine Zunge fühlte sich seltsam taub an, also beschränkte er seine Antworten auf ein Minimum und starrte aus dem Wagenfenster, während sie zur Oceana Clinic rasten.
Die Tatsache, dass sie seine Erklärung ohne jede Nachfrage akzeptiert hatte, deprimierte ihn.
Seine Sitzung mit Dr. Terrien verlief auch nicht besser. Aufgrund von Sebastians Hinweis, er solle niemandem etwas sagen, hatte er nicht besonders viel zu berichten. Eigentlich befand er sich noch im Halbschlaf, obwohl seine Augen offen waren.
»Gibt es irgendetwas, das Ihnen Sorgen bereitet, Gabriel?«, erkundigte sich der Arzt. »Gestern hatte ich das Gefühl, dass wir gute Fortschritte machen. Und heute haben Sie mir überhaupt nichts zu erzählen.«
Gabe rieb sich die Augen. »Ich bin müde, Doc. Gegen drei Uhr morgens verlieren die Schlaftabletten einfach ihre Wirkung. Tagsüber möchte ich mich dann hinlegen. Das Dexamphetamin scheint bei mir einfach nicht anzuschlagen.«
Dr. Terrien rieb seine Handflächen aneinander. »Sie können abends ruhig drei Tabletten nehmen«, schlug er vor. »Und was das Dexamphetamin angeht: es wird nicht wirken, wenn Sie körperlich erschöpft sind. Geben Sie dem Medikament etwas Zeit, seine Wirkung zu entfalten.«
Gabe öffnete seine verschlafenen Augen und merkte, dass Verärgerung in ihm hochkochte. Wenn er also reden musste, damit sie mit ihrer Sitzung zu einem Ende kamen – an ihm sollte es nicht liegen. »Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas erzähle? Das kann ich tun. In der vergangenen Nacht habe ich von meinem Gefängnis geträumt. Es war ein Bunker auf einem Hügel, von dem aus man lediglich felsiges Bergland sehen konnte. Es gab ein Fenster, ein langes schmales Fenster ganz oben unter der Decke und eine gemauerte Liege, auf der ich geschlafen habe. Durch einen Spalt in der Mauer konnte ich in einen weiteren Raum auf der anderen Seite des Gangs sehen. Meine Wächter waren jede Nacht auf und haben in diesem Raum im Internet gesurft.«
»Im Internet?«, unterbrach ihn Dr. Terrien etwas ungläubig.
»So ist es. Sie haben das Netz nach Seiten durchforstet, auf denen sie Informationen für terroristische Attacken finden konnten – Angaben zur örtlichen Energieversorgung, über Wasserspeicher und Gastanks. Solche Dinge eben. Wenn sie dann etwas entdeckten, was ihrer Meinung nach eine Schwachstelle darstellte, haben sie die Information an irgendwelche hohen Tiere der al-Qaida, der Hamas oder wem auch immer verkauft.«
Dr. Terrien betrachtete ihn genau, als versuchte er herauszufinden, ob Gabe ihm einen Bären aufband.
»Kein Kommentar?«, wollte Gabe wissen.
»Nun ja … «, der Arzt rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her, »… ich weiß nicht viel über internationale Konflikte, Gabriel. Aber ich bin mir sicher, diese Information
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