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Aus dem Nichts ein neues Leben

Aus dem Nichts ein neues Leben

Titel: Aus dem Nichts ein neues Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zwar so gründlich, daß auch der alte deutsche Revanchistengedanke endgültig zertrümmert sein sollte.«
    Paskuleit hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Ludwig besuchte jetzt das Gymnasium und lernte Latein und Mathematik, Peter kam in die Schule und schrieb die ersten Buchstaben, die kleine Inge spielte in einem neugebauten Kindergarten, und erhielt jeden Mittag eine dicke Milchsuppe mit Rosinen von einer englischen Hilfsorganisation. Das Leben normalisierte sich, wenn man es normal nennt, daß vom Morgengrauen bis zum Abenddämmern Paskuleit und Busko in der Werkstatt hockten und Erna Kurowski mit zwei Körben Schuhe einsammelte und die besohlten Schuhe wieder austrug zu den Kunden. Aber wer rechnete damals nach Stunden? Wer leistete sich den Luxus, müde zu sein? Wer dachte an Urlaub? Hätte damals jemand gesagt: »Ich komme von der Gewerkschaft, – ihr dürft nur 40 Stunden arbeiten!«, den hätte man so lange in den Hintern getreten, bis er die Internationale auf chinesisch gesungen hätte. Wer wagte es, Forderungen durch Streiks durchzudrücken? Jeder lag irgendwie auf der Schnauze, fraß Dreck, hatte die Front, die Bombennächte, die Flucht noch in den Knochen und war glücklich, daß er überhaupt lebte.
    Sommer 1947. Ein Pfund Butter kostete 350, – Reichsmark, ein Pfund Kaffee 450, – Mark. Wer noch Vorkriegsseife hatte (so welche gab es) – denn jetzt wusch man sich mit Tonseife oder mit einem qualligen Ding, das so leicht war, daß es oben auf dem Wasser schwamm –, wurde umschwärmt. Ganze Heere zogen aus den Städten über das Land und belagerten die Bauernhöfe, tauschten Teppiche gegen Käse, Klaviere gegen Speck, Schreibmaschinen gegen Kartoffeln, Waschpulver gegen Rüben, aus Stahlhelmen getriebene Töpfe gegen einen Kohlkopf. Eine englische oder amerikanische Zigarette kostete 6, – Mark, – wer täglich eine rauchen konnte, gehörte zur obersten Schicht. Die berühmten Ringtäusche begannen, es gab nichts in Deutschland, was nicht reihum wanderte … wer ein Brett brauchte, fing mit einer Kaffeekanne an, für die man ein Paket Nägel bekam. Die Nägel wurden zu einem Bettvorleger, der Bettvorleger zu einer alten Stehlampe, die Stehlampe zu einer verbeulten Milchkanne, die Milchkanne (in ihr konnte man Maische zum Schwarzbrennen ansetzen) zu drei Flaschen selbstgebranntem Korn, genannt Habra, aus drei Flaschen Korn endlich wurde das gebrauchte lange Brett samt Scharnieren … hurra, man konnte eine Tür bauen!
    Aus dem Ruhrgebiet fuhren nachts lange Kohlenzüge nach Belgien und Frankreich. Nacht für Nacht ratterten sie durchs Land, während im strengen Winter 1946/47 die Menschen an den kalten Öfen zitterten. Da standen dann plötzlich in der Nacht lange Reihen von Springern an den Bahndämmen und enterten die Kohlenzüge, warfen die schwarzen Brocken hinunter zu den anderen, die sie in Säcken aufrafften. Und in Köln sagte der Kardinal Frings, daß dies kein Raub sei und Gott bei den Menschen ist, die um ihr Leben kämpfen. Von da ab sagte keiner mehr: »Ich gehe Kohlen klauen«, sondern: »Ich gehe fringsen.«
    Der Krieg war vorbei, aber der Frieden war fürchterlich. Von Tag zu Tag wurde das Geld wertloser … man saß da, die Hände voller Reichsmark, und kaute an seinen hundert Gramm Maisbrot herum, das entweder im Mund staubte oder glitschig an den Zähnen klebte. In diesem Sommer 1947 sagte Julius Paskuleit zu Erna Kurowski: »Man hat uns Schustern immer die Pechärsche genannt! Jetzt sieh dir an, wo die Studierten sind! Die kloppen Steine an der Straße … aber bei uns geht's auseinander wie'n Hefekloß. Erna … noch ein Jahr, und wir können uns ein ganzes Haus kaufen!«
    Die ›Schuhbesohlerei Ewald Kurowski‹ am Rande von Lübeck war ein gesundes Unternehmen geworden. Jetzt arbeiteten schon zwei andere Gesellen in der vergrößerten Werkstatt, Paskuleit konnte es sich leisten, einmal im Monat beim Wirtschaftsamt zu erscheinen, Bezugsscheine für Leder, Nägel, Gummi, Beschläge und Zwirn zu fordern und die verschreckten, sich wieder in Akten einwühlenden Beamten anzubrüllen: »Was heißt hier einschränken? Ich weiß, daß ihr eure Bezugsscheine bebrütet! Himmel und Arsch, bei der nächsten Wahl werde ich Innungsmeister … wißt ihr, was das bedeutet? Ein Paskuleit Innungsmeister? Ihr wißt es nicht. Ihr habt noch keinen ostpreußischen Herbststurm mitgemacht –«
    Ende August 1947 stellte Paskuleit eine Flasche Wein auf den Tisch und setzte sich Erna Kurowski,

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