Aus dem Nichts ein neues Leben
Ludwig, Peter, der kleinen Inge und Franz Busko gegenüber. Er zog eine Zeitung heraus und schlug sie auf. Den Anzeigenteil.
»Bevor wir die Flasche aufmachen«, sagte er, »hört mal zu. Zwei Jahre lang haben wir keinen Kaffee getrunken, nur Pfefferminztee, selbst gepflückt und selbst getrocknet. Wir haben nicht geraucht und kaum Fett verbraucht. Du, Erna, hast alles Fett eingekocht, den Kaffee aufgehoben, die Zigaretten gesammelt. Wir haben geschuftet von morgens bis in die Nacht, und jeder von uns hat erst aufgehört, wenn er umgefallen ist. Wäre Opa noch bei uns, würde er jetzt brüllen: Das ist es! Andere verfressen ein Vermögen, wir machen eins. Liebe Familie, wir haben ein Vermögen.« Er zeigte auf die Zeitung und hob sie dann hoch, damit alle die rotumrandete Anzeige sehen konnten. »Hier stand vor drei Wochen das drin: ›Ein ehemals gutgehendes, jetzt teilzerstörtes Schuhgeschäft in Leverkusen an Fachmann zu verkaufen. Preis Verhandlungssache.‹ Ich habe hingeschrieben, ohne euch zu fragen, ich habe verhandelt … ab 1. Oktober sind wir Besitzer eines Schuhgeschäftes mit Werkstatt in Leverkusen! Was sagt ihr nun?«
»Wenig.« Erna Kurowski starrte Paskuleit an. Sie schien noch gar nicht zu begreifen, was da gesagt worden war. Doch dann fragte sie: »Was kostet es?«
»Fünf Pfund Kaffee, zehn Pfund eingekochtes Fett, zweitausend Zigaretten und zehntausend Mark –«
»Unser ganzes Vermögen, Julius –«
»Alles!« Paskuleit ließ die Zeitung auf den Boden flattern. »Für ein Geschäft, Erna! Ein richtiges Geschäft mit großem Schaufenster und einem Laden und einer doppelt so großen Werkstatt dahinter wie hier. Und dann in Leverkusen …«
»Wo liegt Leverkusen, Julius?«
»Am Rhein, zwischen Köln und Düsseldorf. Das ist eine Ecke mit Zukunft, Erna. Da ist Industrie, da ist Bayer, da ist der Rhein, im Rücken das Ruhrgebiet … Ich habe es gewagt, Erna …«
»Unser ganzer Besitz! Und wenn es schiefgeht, Julius?«
Sie legte die Arme um ihre zusammengerückten Kinder.
»Wenn Ewald zurückkommt …«
»Er kann in Leverkusen ebenso leben wie in Lübeck.« Paskuleit nahm die Flasche und drehte den Korken heraus. »Erna, laß uns darauf anstoßen. Wir haben den Treck überlebt, wir haben uns aus dem Dreck gezogen … wir haben immer alles gewagt. Wie heißt es bei uns?«
»Wir lassen uns nicht unterkriegen!« riefen die Kinder. Paskuleit nickte. »Da – Erna – ruft unsere Zukunft! Für die klettern wir jetzt auf die Leiter. Verdammt, Franz … du sitzt herum wie ein Kalb. Was sagst du?«
Und Franz Busko sagte bedächtig: »Du bist der Meister! Ich kann auch in Leverkusen Zwecken in die Sohlen kloppen!«
»Dann ist's gut.« Paskuleit lachte, beugte sich über den Tisch und küßte Erna auf die Stirn. »Lach auch, Erna … wir rücken in Leverkusen an mit zweitausend Gummisohlen aus Opas Autoreifen. Mit dieser Armee erobere ich unsere Zukunft!«
Der unaufhaltsame Aufstieg der Kurowskis begann.
10
Das ›teilzerstörte Schuhgeschäft‹ in bester Lage von Leverkusen erwies sich als ein Trümmerhaufen. Zwar stand das Haus noch, oder besser – man konnte an den Außenwänden erkennen, daß es ein schönes, stattliches Haus gewesen war … aber von einem Ladengeschäft zeugten nur noch die leeren Schaufensterhöhlen und der dahinter liegende, mit Schutt gefüllte, ziemlich große Raum. Was allein stimmte, war die ›beste Lage‹ … nahe am ebenfalls zerstörten Bahnhof, mitten in dem, was man großzügig eine City nennen würde, eine Straße, durch die jeder gehen mußte, die Aorta Leverkusens gewissermaßen … aber jetzt nur ein geräumter Pfad zwischen Ruinen und Schuttbergen.
Die Familie Kurowski stand sprachlos vor ihrem neuen Besitz, mit Koffern und Pappkartons neben sich auf dem Bürgersteig, Rucksäcken und einem Flechtkorb, den sich Franz Busko wie eine Kiepe auf den Rücken geschnallt hatte. Die zweitausend Gummisohlen, die Einrichtung der Schuhmacherwerkstatt, die alten Maschinen, der ganze in Lübeck angeschaffte Hausrat aus der schönen ausgebauten Laube rollte mit einem Güterwagen noch von Norden nach Südwesten. Auch hier hatten zwei Pfund Butter und ein Pfund Kaffee dafür gesorgt, daß der Waggon bevorzugt abgefertigt und an die nächsten Züge, die ins Rheinland fuhren, angekoppelt wurde.
»Ist det 'ne Scheiße!« sagte Busko und starrte auf das Ruinenfeld. »Habense det jewußt, Meester?«
»Ich hab's geahnt, Franz.« Paskuleit legte den Arm um Erna Kurowski.
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