Aus dem Nichts ein neues Leben
Straße!«
Die Familie Kurowski begann, das Haus Nordstraße 34 aufzubauen.
Auch im zerstörten Deutschland von 1947 hatte alles wieder seine behördliche Ordnung. Zwar zogen ganze Menschenschlangen aufs Land und fuhren auf den Trittbrettern der Züge, in Güterwagen, Bremserhäuschen, mit Holzgasautos und auf Fahrrädern bis nach Bayern und überfielen die entlegensten Bauernhöfe wie Heuschreckenschwärme, nur um ein paar Pfund Kartoffeln, ein Stückchen Speck, ein Glas Schmalz oder eine Welle Butter zu tauschen; Schnellgerichte saßen stundenlang über ausgemergelten Frauen und Männern Gericht, die man beim Stehlen von Kohlköpfen, Salat und Steckrüben auf den Feldern erwischt hatte, verurteilten sie wegen Mundraub zu Geldstrafen oder ein paar Tagen Haft, bis die Gefängnisse aus den Nähten platzten und Wartezeiten zum Einsitzen bis zwei Jahre hatten … trotz einer immerwährenden Jagd nach Sattsein, dem einzigen großen Gedanken der Deutschen in diesem Jahr, zu dem sich bei fortschreitender Jahreszeit die Angst vor dem Winter gesellte, arbeiteten die Behörden mit einer geradezu perfiden Präzision.
Paskuleit hatte vierzehn Tage zu tun, um sich in Leverkusen behördlich zu etablieren. Er meldete sein Gewerbe an, seinen Umzug, den Hauskauf, die Eröffnung einer Werkstatt mit Ladengeschäft, stand Schlange vor den Bezugsscheinstellen und beantragte Fensterglas, Leder für sein Gewerbe, Nägel, Zwecken, Garne, Farben, Pech, Leim und Gewebe, stritt sich mit den Beamten herum, die der Ansicht waren, die Genehmigung eines Gewerbebetriebs sei nicht gleichbedeutend mit einer Zuteilung rationierter Sachen, erfuhr, daß in der Kreisverwaltung als Oberinspektor ein alter Bekannter aus Passenheim saß, und drang bis zu ihm vor.
»Der Paskuleit!« sagte der Oberinspektor. »Nee, Maanchen, so 'was! In Leverkusen! Komm, trink einen Schnaps, 'n Selbstgebrannten! Was ist eigentlich aus Adamsverdruß geworden?«
Wer damals einen Vetter – oder auch nur einen alten Bekannten mit einem goldenen Herzen – an der richtigen Stelle sitzen hatte, war vom Glück geküßt. Paskuleit verließ den Oberinspektor aus Passenheim mit vielen Zusicherungen, daß Haus und Laden die Förderung der Stadtverwaltung erhalten würden.
Und siehe da … nun lief es. Bis Ende Oktober hatte man das Untergeschoß ausgebaut und die Decke mit Dachpappe so abgedeckt, daß der Winter kommen konnte. Die Schaufenster waren eingesetzt, der Laden geweißt, die Werkstatt eingerichtet, und hinter der Werkstatt war eine kleine Wohnung entstanden.
»Sogar 'nen Garten haste –«, sagte Paskuleit zu Erna Kurowski. »Zwar nur vier mal fünf Meter jroß … aber für Petersilie und Porree reicht's …«
Es war ein trauriger Garten, eingekeilt zwischen Wohntrakt und der hochragenden, zerborstenen Wand des Hauses der Parallelstraße; ein Fleck Erde voller Trümmerschutt, über dem wie ein viereckiges Fenster der blaue Himmel hing. Der jetzt zwölfjährige Ludwig und der siebenjährige Peter sammelten die Steine auf und gruben die Erde um, die vierjährige Inge richtete sich in einer Ecke an der Hauswand einen Sandkasten ein, Erna Kurowski rammte Eisenstangen in den Boden, die Franz Busko nachher weiß lackierte … zum Wäschetrocknen. Die Hauptsorge einer Hausfrau.
Am 9. November … »Ein blöder Tag«, sagte Paskuleit, »aber es geht nicht anders, mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle hat das nichts zu tun …« wurden Geschäft und Werkstatt feierlich eröffnet. Über der Ladentür hing jetzt nicht mehr ›Schuhbesohlerei Ewald Kurowski‹, sondern ein anderes, breites, blaugrundiges Schild mit leuchtenden gelben Buchstaben: ›Westschuh‹.
Paskuleit erklärte das so: »Für das Rheinland ist Kurowski ein Name, der nicht lockt. Man muß psychologisch vorgehen, Erna. Westschuh … das trifft hier ins Herz! Das ist ein Teil von ihnen. Das ist nun mal so … wir waren damals stolz, Ostpreußen zu sein – wir sind's noch, Erna! – und die hier sind stolz, Rheinländer zu sein. Deutsche sind wir alle, was macht's also, wenn man sich eingliedert? Wie gefällt dir ›Westschuh‹?«
»Gut, Julius«, sagte Erna Kurowski und starrte auf das große Schild über dem Ladeneingang. Noch waren die Schaufenster leer. »Aber wenn Ewald zurückkommt …«
»Ewald denkt wie ich, verlaß dich drauf.« Paskuleit steckte die Hände zufrieden in die Hosentaschen. »Die ›Westschuh‹ ist eine GmbH … Ewald, du, die Kinder, ich und Franz sind Gesellschafter. Und morgen
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