Aus dem Nichts ein neues Leben
dreiundzwanzig Uhr Autobahn Köln-Frankfurt, Rastplatz Königsforst. Einfahren ohne Licht, Geld aus dem Fenster werfen. Inge steht an Ausfahrt des Rastplatzes an einen Baum gebunden. Ende.«
»So ein Sauhund«, stammelte Paskuleit. »So ein Schwein. An einen Baum gebunden … ein Kind … Das darf man Erna gar nicht sagen …«
»Um Himmels willen, nein!« Ellerkrug wischte sich über die Augen. »Wir bringen ihr morgen früh Inge ins Krankenhaus. Los, fangen wir an zu zählen. Hunderttausend Mark sind 'ne Menge Papier …«
Um halb elf Uhr abends bogen Ellerkrug und Paskuleit mit Ellerkrugs Mercedes auf die Autobahn nach Köln-Frankfurt ein. Hinter ihnen lag in einem Koffer das Geld. Es war eine dunkle, kalte Nacht. Der Himmel hing schwer über dem Land. Hinter Köln begann es zu schneien. Ellerkrug fuhr langsam und vorsichtig, aber auch er wurde sichtlich nervöser, je näher sie dem Königsforst kamen.
Genau um dreiundzwanzig Uhr erreichten sie den Rastplatz und schwenkten von der Autobahn ab.
12
Sie waren die einzigen, die in den Rastplatz eingebogen waren; Ellerkrug und Paskuleit starrten durch das Autofenster auf die unversehrte Schneedecke. Dicke Flocken schwebten vor den Scheinwerfern, die Stille war so groß, daß das Tuckern des Motors wie fortwährende Explosionen klang. Von der Autobahn hörte man gar nichts … die wenigen Wagen, die von den Wirtschaftsämtern mit Benzingutscheinen versorgt wurden, konnte man zählen und gehörten zu den ganz großen Ausnahmen, und wer bei diesem Wetter unterwegs war, fuhr so vorsichtig, als rolle sein Wagen nicht auf Gummireifen, sondern auf Eiern.
»Nichts« – sagte Paskuleit gepreßt. »Keine andere Reifenspur. Man hat uns in die Irre geführt.« Er verkrampfte die Finger ineinander, daß sie knackten. »Heinrich, ich habe Angst. Wenn Inge von diesen Saulumpen umgebracht worden ist, können wir Erna auch begraben.«
Ellerkrug antwortete nicht. Er schaltete die Scheinwerfer aus und wartete. Die Dunkelheit, das lautlose Schneien, die unter der Schneelast tief heruntergebogenen Fichtenzweige, das Gefühl, völlig wehrlos zu sein, und die 100.000 Reichsmark in der Aktentasche, diese sich endlos dehnenden Minuten, in denen sich vielleicht das Schicksal eines kleinen Kindes entschied, waren so niederdrückend, daß Paskuleit und Ellerkrug pfeifend atmeten. Ihr Herz hämmerte unerträglich … und wieder spürte Paskuleit dieses stechende Gefühl links unten in der Brust, das er bisher immer durch tiefes Atemholen verscheucht hatte.
»Ich warte noch zehn Minuten, dann steige ich aus«, sagte Paskuleit heiser.
»Bei dem Wetter können sich die Entführer verspätet haben.«
»Mir ist es überhaupt rätselhaft, wie sie von uns das Geld nehmen wollen! An den Wagen herantreten? Mein Lieber, ich packe zu und drehe ihnen den Hals rum …«
»Sie werden bewaffnet sein, Julius. Mach keinen Quatsch! Überall liegen Waffen genug herum … so viel kann keine Polizei und keine Besatzungsmacht kontrollieren. Westlich von Pirmasens steht einsam eine völlig intakte Flak im Wald und rostet vor sich hin. Bisher hat sie noch keiner abgeholt. Ich war ein paarmal bei ihr und habe ein paar Griffe gekloppt. Hatte mal 'ne Flakausbildung …«
Paskuleit öffnete die Tür. Kälte und Nässe strömten sofort in das Auto.
»An einen Baum binden!« schnaufte er. »Selbst wenn sie das Geld holen, – soll Inge hinterher erfrieren! Verdammt, – ich steige aus und suche! Halt mich bloß nicht fest, Heinrich!«
»Du kannst damit alles in Frage stellen, Julius! Wenn sie uns beobachten …«
»Am Arsch können sie mich lecken!« brüllte Paskuleit und sprang aus dem Auto. »Ich halte es in diesem Blechkasten nicht mehr aus!«
Er ließ sich fast aus dem Auto fallen, sprang sofort auf, klopfte den Schnee von seinen Hosen und dem umgearbeiteten Militärmantel, und er tat es besonders laut, damit man es hören konnte. Aber der Schnee, die dicke weiße Wand um ihn herum sog jeden Laut sofort auf.
Paskuleit ging ein paar Schritte tiefer in den Rastplatz hinein. Wie ein Bär stand er im Schnee, breitbeinig, stämmig, bereit zum Kampf … daß er eine Beinprothese trug, sah man jetzt nicht. Er strotzte vor Kraft. »Ist hier jemand?« brüllte er. Jetzt fehlt uns Opa, dachte er völlig unsinnig. Der ›Brüll-Jochen‹. Wenn er rufen würde, würde der Schnee von den Zweigen fallen. »Hallo!« schrie er wieder. »Wir sind da! Verdammt, melden Sie sich. Sie sehen doch, daß wir keine Polizei
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