Aus dem Nichts ein neues Leben
Ausland! Da kalkuliert er so knapp, daß er gerade die Butter aufs Brot bekommt, aber dann macht's doch die Masse! Das sind Kampfpreise! Wenn er den Kampf will, – er soll ihn haben! Gegen diesen Kurowski war ja der Paskuleit geradezu ein Gentleman! Kaum ist der Kerl aus der sowjetischen Gefangenschaft zurück, tritt er alle anständigen Kaufleute in den Hintern! Aber ich trete zurück! Was wollen Sie unternehmen, Hübner?«
Hübner, vorsichtiger, als Schriftführer des westdeutschen Schuheinzelhandelsverbandes sowieso zur Zurückhaltung verpflichtet und vor allem kein Choleriker wie Runzenmann, antwortete ausweichend. »Wir überlegen noch –«, sagte er gedehnt.
»Ihr überlegt, bis ihr krepiert seid! Sollen wir uns von diesem Ostpreußen, diesem Pimmock, dauernd in die Fresse schlagen lassen?« Runzenmann schäumte vor Wut. Er zerriß die Zeitung – Hübner hörte es durchs Telefon – und warf sie gegen die Wand. »Ich habe fünf Läden zu verlieren.«
»Wir sollten uns zu einer Einkaufsgenossenschaft zusammenschließen«, sagte Hübner.
»Genossenschaft. Wenn ich das Wort schon höre! Sind wir in Rußland?! Und dann – wie lange dauert das, bis wir soviel Kollegen unter einem Hut haben, daß sich das lohnt?« Runzenmann bellte wie ein Kettenhund. »Nein, Hübner, ich habe etwas Besseres! Ich habe einen Neffen bei der Stadtverwaltung. Der beschafft mir Auszüge aus den Personalakten von Kurowski. Und ich will Pimpelchen heißen, wenn wir da nicht einen Fleck finden! Und den blasen wir auf zu einem ganzen Sumpf –«
Runzenmann hatte recht – der eifrige Neffe in der Leverkusener Stadtverwaltung fand tatsächlich einen Schönheitsfleck: Kurowski war von 1935 bis 1945 Mitglied der Deutschen Arbeitsfront gewesen und 1938 sogar Kreishandwerksmeister des Kreises Ortelsburg.
»Hurra!« schrie Runzenmann, als er den Auszug aus den Personalakten in der Hand hielt. »Hurra! Aus Kurowski machen wir einen Supernazi! Bis er das abgewaschen hat, ist er pleite. Den drehen wir jetzt durch die Mangel …«
Es gab damals eine von den alliierten Besatzungstruppen eingeführte nützliche, aber später oft mißbrauchte Einrichtung: Die Entnazifizierung. Vor sogenannten ›Spruchkammern‹ mußten sich alle, die irgendwie unter Hitler ein Amt innegehabt hatten, in der Partei gewesen waren oder anderen Naziorganisationen – und von denen gab es eine ganze Menge, denn im Dritten Reich gab es außer den Säuglingen nichts, was nicht organisiert war – angehört hatten, verantworten, die Verurteilten wurden dann eingestuft in Mitläufer (straffrei) und Gruppe IV-I, wobei I die unmittelbaren Kriegsverbrecher waren, den normalen Gerichten überstellt wurden und alles Vermögen zu Gunsten des Staates eingezogen wurde. Bei Kurowski – so hoffte Runzenmann – könne man bis Gruppe III kommen. Das genügte, um die ›Westschuh‹ in den Abgrund zu stürzen. Wenn man Berühmtheiten wie Sauerbruch und Furtwängler, Gustav Gründgens und Werner Kraus, Emil Jannings und Krupp vor die Spruchkammern brachte, war der Fall Kurowski ein kleiner Fisch, um den sich keiner kümmern würde, wenn er verfaulte.
Eine Woche nach Ostern lag die Vorladung auf dem Tisch. Ewald Kurowski las das amtliche Schreiben langsam durch, sagte laut: »Erna, in Deutschland wird langsam wieder alles normal, denn die Deutschen fangen wieder an zu spinnen. Hier steht, ich soll ein Nazi gewesen sein!« und rief Franz Busko und Heinrich Ellerkrug an.
Busko kam sofort mit dem Ehrenparteibuch Nummer 305. »Det is der beste Schutz, Meester«, sagte er. »Als altes Mitglied unserer Partei is alle Anklage Käse. Det würgen wir ab!«
Und Ellerkrug sagte: »Ewald, geh hin. Laß dich entnazifizieren. Dann ist für alle Zeiten Ruhe! Weißt du, wohin wir steuern? Was aus Deutschland wird? Im Augenblick geht's uns gut, es geht aufwärts, – aber bleibt es so? Was ist in fünf Jahren? Zehn Jahren? Wir haben den Krieg verloren, wie noch nie ein Volk einen Krieg verloren hat. Da gibt es keine Prognosen für die Zukunft. Aber eines ist immer gut, was auch kommt: Eine reine Weste. Amtlich gewaschen. Laß es über dich ergehen.«
»Ich hatte immer eine reine Weste!« sagte Kurowski bitter. »Kreishandwerksmeister. Das ist doch keine politische Stellung. Und Arbeitsfront. Da waren wir doch alle drin! Und wer rechnet mir die Jahre in Rußland an? Sibirien, das Holzfällerkommando, das Sägewerk in der Taiga?«
»Der liebe Gott, Ewald.«
»Der verkauft keine Schuhe!«
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