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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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    weg«, sagte ich gelassen und blickte ihm unbeweglich ins Gesicht, das nahe dem meinen war.
    »Das kann ich nicht«, sagte er leise, »die wahren Abenteuer kann ich nicht geben«, ließ seine Hand von mir, stand auf und trat ans Fenster.
    »Dann ist die Verwaltung machtlos«, stellte ich fest, trium-phierend über seine Schwäche.
    »Sie ist machtlos«, sagte er und blickte bleich in die Dämmerung hinein, durch die kein Kinderlachen mehr drang, die das Zimmer und die zerfallene Welt jenseits seiner Mauern immer mächtiger füllte. »Was könnte uns auch die Macht nützen! Wie wäre Macht imstande, einen Menschen zu zwingen, das in Demut und Kühnheit zu unternehmen, zu was er immer noch fähig ist, jederzeit, das seine Bestimmung ist: Einzugehen in die namenlose Menge als ihr Salz, sie von innen zu durchdringen kraft seiner Liebe und seines Glaubens. Die Welt kann nur durch den Geist gewonnen werden. O einzige Gnade, dies zu begreifen! Doch wir sind hilflos. Wir können die Pforte, die jedem offensteht, keinem öffnen. Wir sind hilflos. Wir sind machtlos«, flüsterte er.
    Ich hatte gesiegt.
    Ich drehte den Schalter um, den ich an der Wand bemerkt hatte. Eine Glühlampe leuchtete trübe über dem Tisch auf.
    »Reden wir sachlich miteinander«, sagte ich. »Was hat die Verwaltung mir anzubieten?«
    Er kehrte sich langsam am Fenster um und blickte mir ins Gesicht. Er war totenbleich, und Schweiß lag auf seiner Stirne.
    »Gehen Sie«, schrie er mich an und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Scheren Sie sich nach Hause!«
    »Ich lasse mich nicht mehr abweisen«, sagte ich kühl und unbeirrt. »Die Verwaltung ließ mich kommen. Nun bin ich da.
    Nun will ich wissen, was die Verwaltung mir anzubieten hat.«
    Er trat zum Tisch und schaute auf die Papiere nieder.
    »Gut«, sagte er müde und ohne mich anzusehen, den Blick 131

    nicht von der Mappe gewendet, in der meine Akten lagen. »Ich muß Ihnen gehorchen, wenn Sie darauf bestehen. Die Verwaltung bietet Ihnen Macht an.«
    Diese Antwort verwirrte mich so, daß ich den Beamten fas-sungslos anstarrte. Mein Sieg fiel glänzender aus, als ich erwartet hatte. Er schien jedoch meine Überraschung nicht zu bemerken und setzte sich wieder an den Tisch.
    »Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich vorsichtig. Sein Angebot kam derart meinen Wünschen entgegen, daß ich trotz meiner Freude mißtrauisch wurde. Es war nicht unmöglich, daß der Beamte ahnte, daß ich ihn hatte töten wollen, und jetzt zu einem Gegenschlag ausholte.
    »Man hat die Gesellschaft in Besitzende und Besitzlose eingeteilt«, begann er wie beiläufig, immer noch ohne mich anzusehen, »in Ausbeuter und Ausgebeutete, wie die Fachaus-drücke meines Wissens lauteten. Diese Einteilung ist durch die Entwicklung überholt. Die politischen und wirtschaftlichen Zustände sind anders geworden. Die Menschen haben wohl Brot und Gerechtigkeit erhalten und auch die Freiheit des Geistes, die jedem gewährt ist, aber die politischen Freiheiten haben sie verloren, weil es keine Politik mehr im alten Sinne gibt. Vor allem haben sie keine Macht. Die Macht liegt allein bei wenigen, bei einer besonderen Kaste. Die Gesellschaft zerfällt in Machtlose und Mächtige, in Gefangene und Wärter, wie wir uns ausdrücken, um genau zu sein, um zu verhindern, daß den Mächtigen eine falsche Bedeutung zukommt. Man soll sie zwar fürchten, aber nicht verehren.«
    »Sie wollen mich in die Verwaltung aufnehmen?« fragte ich atemlos. Auf diese Lösung war ich noch nicht gekommen.
    »Nein«, antwortete er. »In die Verwaltung können Sie nicht aufgenommen werden. Die Verwaltung hat nur die Aufgabe, die beiden Welten der Macht und der Machtlosigkeit zu trennen und Übergriffe zu verhindern. Dazu hat sie Macht, sonst nie.« (Dies sagte er sehr bestimmt, schaute mich auch 132

    während der nun folgenden, etwas abstrakten Worte äußerst aufmerksam an.) »Die Verwaltung stellt ebenfalls die Polizei in der Stadt – die von der Menge mit den eigentlichen Wärtern oft verwechselt wird – und ist so imstande, die Verbrecher den Wärtern zu übergeben, die denn auch, getrennt von der Bevölkerung, durchaus im geheimen leben, wie ja die allergrößte Macht nur im geheimen ihren Wohnsitz nimmt. Auf die Wärter dagegen kann die Verwaltung keine Macht ausüben, ebensowenig wie auf die Gefangenen (womit ich die Massen der Bevölkerung meine), über welche die Wärter wiederum nur dann Macht bekommen, wenn die Verwaltung es zuläßt.
    Die Verwaltung

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