Aus der Asche - Silvanubis #2 (German Edition)
besondere Gabe besitzen, mit den Kreaturen Kontakt aufzunehmen. Sie sprechen nicht miteinander, sondern tauschen Gedanken aus.
»Du kannst … sie können deine Gedanken lesen?« Anna hob skeptisch eine Braue. Sie klappte das Buch zu und sah Noah ungläubig an. Beinah verlegen antwortete der große Mann.
»So ungefähr. Jedenfalls haben sie gewusst, dass ich ihre Hilfe benötigte, um Alexander zu retten. Umgekehrt funktioniert das genauso. Ich weiß, wenn sie meine Hilfe brauchen und wo ich sie finden kann.«
Alexander strahlte. Er hatte offensichtlich keine Probleme, dies zu akzeptieren. »Jeder besitzt bestimmte Talente. Das ist hier nicht anders als in unserer alten Heimat, Anna. Nur, dass hier andere Begabungen wichtig sind.«
Noah nickte zustimmend. »Stimmt. Es ist nicht mehr als ein Wesenszug, ein besonderes Merkmal. Ich glaube nicht, dass ich beispielsweise jemals eine Phönixfeder empfangen werde oder Passagen durchschreiten kann. Der Kontakt zwischen mir und den, ähm, besonderen Lebewesen hier ist nicht anders als der Kontakt zwischen dir und dem Phönix und allem, was damit zusammenhängt. Hast du nicht gesagt, dass Peter genau wusste, wo er euch finden konnte, als ihr nach Hause, in die alte Welt«, verbesserte er sich rasch, »zurückgekehrt seid? Und du hast gewusst, dass Alexander deine Hilfe braucht und wo er zu finden ist.«
Erneut griff er nach dem Buch, blätterte suchend und legte es dann triumphierend vor Annas Nase. »Hier, siehst du?«
Der Phönix stand dort in großen goldenen Buchstaben. Anna überflog den Anfang und hielt dann inne. Die Federempfänger können nicht nur mithilfe der Feder Wunden und Verletzungen heilen, sie haben außerdem eine weitere Gabe erhalten. Die Verbindung zu der magischsten aller Kreaturen in Silvanubis ermöglicht ihnen, mit dessen Augen zu sehen. Der Kontakt zwischen Mensch und Phönix verstärkt sich mit der Zeit. Bald wissen sie genau, wann einer ihrer Freunde in Not ist, wann sie gebraucht werden oder wo diese zu finden sind.
Anna fröstelte, man hatte ihr das bereits erklärt, aber es hier schwarz auf weiß vor sich zu sehen, war doch etwas anderes. Außerdem verstand sie immer noch nicht, warum der rote Vogel ausgerechnet sie ausgewählt hatte. Entschieden stand sie auf. Ihr Kopf brummte.
»Okay, genug gelernt für heute. Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang?« Noah runzelte die Stirn. »Bis zur Scheune und zurück. Keine Sorge, Noah, weiter schafft es Alexander sowieso nicht.« Sie schielte auf das dicke, aufgeschlagene Buch. »Und ich muss das hier erst mal verdauen.«
Alexander ging es nicht täglich, sondern beinah stündlich besser. Anna konnte kaum glauben, dass Alexander heute, drei Tage, nachdem sie die Feder benutzt hatte, bereits auf den Beinen war. Richard hatte ihm heute Morgen zwei Krücken gebracht und ihn regelrecht aus dem Bett geworfen.
»So, lange genug gefaulenzt, Alex. Du musst zu Kräften kommen, und zwar schnell.«
Ein dunkler Schatten war über sein Gesicht gehuscht. Naomi hatte ihr anvertraut, dass Kyras Krieger erst gestern erneut versucht hatten, zum Haus vorzudringen. Sie waren mit Leichtigkeit vertrieben worden, behauptete Naomi zumindest, doch die Angriffe häuften sich. Es stimmte, je eher Alexander zu Kräften kam, desto besser. Auch mussten sie sich mit dem Leben hier vertraut machen. Trotzdem war Anna froh, zumindest fürs Erste, dem Buch entkommen zu sein. Es war groß, dick und voller Geheimnisse. Sie war nicht sicher, ob sie alles so genau wissen wollte. Viele Dinge erschienen ihr nach wie vor mysteriös und undurchschaubar.
Sie lief erleichtert voran und hielt Alexander die Haustür auf. Erstaunlich schnell und geschickt humpelte er hinter ihr her. Anna hatte sich bereits daran gewöhnt und nahm den Wachposten vor der Tür gar nicht mehr zur Kenntnis, doch Alexander runzelte erstaunt die Stirn und nickte dem mit Schwert und Pfeil und Bogen bewaffneten Riesen misstrauisch zu. Anna wusste, auf dem Weg zur Scheune würden ihnen noch weitere Krieger begegnen. Sie hielten respektvoll Abstand, doch allein und unbeobachtet waren sie zu keiner Zeit.
»So ist das also«, murmelte Alexander und humpelte die Verandatreppe hinunter. »Sie sind überall, nehme ich an?«
Anna nickte verhalten. »Noch achtundzwanzig Tage, Alexander. Nur noch vier Wochen, dann ist die Gefahr vorüber. Für uns zumindest.«
»Und bis dahin kann ich noch nicht einmal unbeobachtet das Plumpsklo aufsuchen.«
Anna grinste gequält.
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