Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
Streifenpolizistin mit jugendlichem Charme und blondem Pferdeschwanz.
Das Urteil folgt: Lebenslang. »Eins ist klar«, sagt der älteste der Verteidiger, »es gibt nichts, was unseren Mandanten mit der Tat in Verbindung bringt. Wir werden ein Leben lang weiter kämpfen.«
»Etwas anderes ist aber genauso klar«, erwidert der Richter, »es gab zu viele Widersprüche.«
Nachbemerkung: In den letzten zehn Jahren sind allein in den USA sechzig Menschen aus der Death Row freigekommen, weil sich – nach durchschnittlich zehn Jahren Knast – ihre Unschuld herausgestellt hatte.
Kolumne 4: Täter und Opfer
Mark und Lydia Benecke
Gestern im Gerichtssaal. Der Angeklagte lässt sich beim Hereinkommen nicht fotografieren. Er hält sich einen Aktenordner vors Gesicht, bis die Richterin den Fotografen rauswirft. Angeklagt ist ein schlanker Mann in weichem Wollpulli und mit grauer Fönwelle. Er soll sechshundert Mal »sexuelle Handlungen vorgenommen haben«, immer an denselben zwei Kindern. Er betreute sie, war ihr Ersatzvater und hielt Kontakt, bis die Therapeutinnen den Opfern vor Kurzem verboten, ihm weiter Briefe in den Knast zu schreiben.
Im Laufe der Verhandlung bleiben »nur« noch um die hundert – oder doch zweihundert? – sexuelle Handlungen übrig. »Wie soll ich mich an die genaue Zahl erinnern«, sagt der Angeklagte, »wo die Kinder doch bei mir gelebt haben? Irgendwann war ich nicht mehr der Jüngste, da hat der Oralverkehr sicher abgenommen.« Er blättert verständnislos in seinen Unterlagen, in denen er akribisch jeden Monat aufgezeichnet hat, in denen er mit den Jungen – in seinen zweideutigen Worten – »zusammen war«.
Die Richterin gibt sich ungerührt, obwohl ihre Stimme schwankt. Sie versucht stundenlang, die genauen Sex-Häufigkeiten zu errechnen. »Sie waren doch im Urlaub mit den Kindern! Daran müssen Sie sich doch erinnern. Waren Sie in einem Zelt? Im Freien? Oder wo?« – »Ach«, sagt der Angeklagte, »das spielt doch keine Rolle, ob es im Zelt war …«
Es ist hoffnungslos. Alle reden und tanzen um den heißen Brei herum, keiner haut auf den Tisch, keiner hört dem anderen richtig zu. Die Richterin vertagt das Verfahren, die BILD -Zeitung schießt die beiden Opfer, die jetzt sechs Stunden ohne jede Information vor der abgeschabten Türe auf einem Gerichtsflur herumsaßen, noch von hinten ab. Alles geht seinen üblichen, ans Idiotische grenzenden Behördengang.
Eine Frage, die niemand stellt, ist die, warum unser Angeklagter eigentlich so geworden ist, wie er ist. Vor Gericht ist das in diesem Fall aber auch wirklich egal. Er sieht sowieso nichts ein, hat keine Therapie gemacht und beharrt darauf, dass er zeitlebens keinem Kind Gewalt zugefügt hat. Das stimmt sogar, denn nett war er immer. Sogar der warum auch immer zugezogene Psychologe will nur wissen, ob Gewalt und Zwang im Spiel waren oder nicht. Er möchte daher gegen den allgemeinen Willen im Saal, die beiden Opfer heute und für immer in Ruhe zu lassen, sie noch einmal hören.
»Wie viele Pädophilen-Verfahren hatten Sie schon?«, fragt der Verteidiger den Psychologen daraufhin verdächtig freundlich und milde. »Das hier ist doch ein ganz durchschnittliches Pädophilen-Verfahren, kein Mord! Haben Sie schon jemals davon gehört, dass normale Pädophile Gewalt gegen Kinder anwenden?« Nein. Darüber hatte sich niemand im Raum Gedanken gemacht. Die meisten Pädophilen überreden, überrumpeln, überlisten und bestechen ihre Opfer. Messer und Pistole brauchen sie dazu nicht.
Bald wird es allen zu viel. Beratungspause, Kaffeepause, Rechtsgespräch, Mittagspause, Abbruch. Der Staatsanwalt, ein kleiner, junger, überdynamischer Mann, macht noch schnell eine sehr schlüpfrige Bemerkung und beantragt Haftbefehl. Der Angeklagte hatte sich nämlich verplappert und zugegeben, während einer Bewährungszeit vor zig Jahren sofort wieder Kontakt zu seinen kindlichen Opfern aufgenommen zu haben.
Überhaupt macht es dem Staatsanwalt sichtlich Spaß, den Täter wie eine Schlange zu zertreten. Dass sich der alte, sanfte Angeklagte im Buchhalter-Habitus vor allem wegen der angeforderten Zahlenpräzision, die er so gerne liefern würde, windet, versteht derJurist nicht. Er ist für Abstraktes zuständig. Umgekehrt ist es auch nicht besser. Die Frage danach, ob er die Jungs, nachdem sie Schamhaare hatten, noch sexuell anziehend fand, findet nun der Angeklagte seltsam. »Darüber bin ich zum Glück hinaus«, sagt der Mann so sachlich wie
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