Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
er eher wie der Gefängnisdirektor als wie ein Häftling aussah. Psychopathische Straftäter wissen genau, was sie anziehen und wie sie sich verhalten müssen, damit andere Menschen denken: »Er sieht so nett, vertrauenswürdig und gepflegt aus – das kann doch nicht wirklich ein brutaler Serienkiller sein!«
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Stimmen im Kopf, Alkohol und viele Personen in einem Körper
Luis Alfredo Garavito begann erst im Gefängnis davon zu erzählen, dass er jahrelang Stimmen von »Dämonen« gehört hatte, die ihn aufforderten, Jungen zu töten. Wenn Straftäter solche Dinge berichten, dann muss ein psychologischer Gerichtsgutachter besonders aufmerksam Informationen sammeln und einzuschätzen wissen, was dahintersteckt. Denn es kann ganz unterschiedliche Gründe dafür geben.
Manchmal kommt es natürlich auch vor, dass ein Straftäter versucht, eine psychische Störung vorzutäuschen, um für vermindert schuldfähig oder gar schuldunfähig erklärt zu werden. In den USA ist der Anreiz dafür noch deutlich größer als in Deutschland, denn dort kann das einen Täter im Extremfall vor der Todesstrafe bewahren. Das Vorspielen einer seelischen Erkrankung ist allerdings nicht so einfach, wie viele glauben.
Psychische Störungen bestehen aus ganz klar eingegrenzten Merkmalen. Für jemanden, der eine solche Störung nicht selbst erlebt hat und sich auch nicht sehr gut damit auskennt, ist es schwierig, sie wirklichkeitsgetreu nachzuahmen. Er muss nicht nur wissen, was typische Merkmale sind und wie und wann er sie in seine Lebensgeschichte einbaut, sondern auch noch Verhalten, Körpersprache, Wortwahl und vieles mehr darauf abstellen. Dazu müsste jemand also sowohl sehr gute schauspielerische Fähigkeiten haben als auch das entsprechende Fachwissen und die Fantasie, dieses Wissen in seine Lebensgeschichte glaubwürdig einzuflechten.
Gegebenenfalls würden Gutachter mithilfe von Zeugenaussagen auch überprüfen, ob andere Menschen, die den Täter vor seiner Tat kannten, das, was er behauptet und darstellt, bestätigen können. Insgesamt ist es also ziemlich schwierig, eine schwere psychische Störung vorzutäuschen, um damit die eigene Schuldfähigkeit bei einer Gerichtsverhandlung infrage zu stellen.
Garavitos Aussage, er hätte jahrelang Stimmen gehört und unwirkliche Dinge gesehen, muss also genau geprüft werden. Das funktioniert so ähnlich wie in der bekannten Fernsehserie Dr. House . In jeder Folge dieser Serie schreibt Dr. House alle Auffälligkeiten, die sein neuester Patient zeigt, auf eine Tafel. Zusammen mit anderen Ärzten überlegt er, welche Krankheiten als Erklärung für diese Ansammlung von Auffälligkeiten infrage kommen.
Dann schließt er jede Krankheit aus, die im genaueren Vergleich mit der Liste von Auffälligkeiten keine gute Erklärung bietet. Übrig bleibt schließlich die Krankheit, welche alle Auffälligkeiten zusammen am besten erklärt. Dieses Ausschlussverfahren hat schon Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes (die Vorlage für die Figur des Dr. House), mit den Worten beschrieben: »Erst wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein – so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.«
Die Regeln des kriminalistischen Denkens gelten auch für Psychologen und Psychiater. Ich werde nun zeigen, wie man diese Regeln in Garavitos Fall anwenden kann.
Wir schauen uns zuerst an, welche psychischen Krankheiten überhaupt als Erklärung für die Stimmen, von denen Garavito spricht, infrage kommen. Die zwei naheliegendsten psychischen Störungen sind entweder eine Schizophrenie oder eine deutlich unbekanntere psychische Störung, die Alkoholhalluzinose .
Letztere kommt infrage, weil Garavito sehr lange alkoholabhängig war. Schon mit dreiundzwanzig machte Garavito seinen zweiten Entzug. Danach kam er sieben Jahre ohne Alkohol aus, bis er mit dreißig wieder damit anfing. Von da an trank er täglich sehr große Mengen, bis er ins Gefängnis kam. Seine Alkoholabhängigkeit beschrieb er glaubhaft. Ein Beispiel dafür ist seine Erzählung, dass es ihm oft nicht möglich war, morgens auch nur aufzustehen, ohne vorher Alkohol getrunken zu haben.
Menschen, die auf diese Art über Jahre Alkohol trinken, werden »Spiegeltrinker« genannt. Dieser Begriff leitet sich daraus ab, dass sie die ganze Zeit eine bestimmte Alkoholmenge, den sogenanntenAlkoholspiegel, im Blut halten müssen. Sinkt der Alkoholgehalt, dann fühlen sie sich körperlich und
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