Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
gefühlsmäßig schnell sehr schlecht und besorgen sich deshalb schnellstmöglich weiteren Alkohol. Nach einer Weile leben diese Menschen mit einem Alkoholpegel, bei dem Nichtalkoholiker sich nicht mehr aufrecht halten könnten oder sogar bewusstlos werden würden. Spiegeltrinker können aber dadurch, dass sich ihr Körper langsam an immer höhere Alkoholmengen gewöhnt hat, auf andere Menschen nüchtern wirken, obwohl sie völlig betrunken sind.
Garavitos Alkoholabhängigkeit erklärt auch ein auf den ersten Blick merkwürdig anmutendes Ergebnis des kleinen Intelligenztests, den Mark mit ihm im Gefängnis durchgeführt hat. Die Aufgaben zielten hauptsächlich auf Fähigkeiten ab, die von der Schulbildung unabhängig sind, weil Garavito eine nur schlechte Schulbildung hat. Mark hat diese Tests nie ausgewertet. Als ich sie mir einige Jahre später anschaute, stellte ich fest, dass Garavitos Leistungen typisch für die eines langjährigen Alkoholikers sind:
Seine Fähigkeit zu rechnen war gut. Kein Wunder, denn er hat jahrelang neben seinen Gaunereien als Händler gearbeitet. Dabei musste er viel und schnell kopfrechnen. Er konnte auch Dinge schnell wahrnehmen, beispielsweise sehr schnell zählen, wie viele Sterne auf einem Bild voller Sterne, Kreise und Vierecke sind. Allerdings ist er an Aufgaben, bei denen es darum geht, sich Dinge räumlich vorzustellen und unbekannte Regeln in Reihenfolgen von Formen zu erkennen, total gescheitert (siehe Abb. S. 11). Genau diese Fähigkeiten, die bei ihm auffällig schlecht ausgefallen sind, verschlechtert sich bei Menschen, die über viele Jahre alkoholabhängig sind, oft.
Garavito erzählte, er habe die Stimmen, die ihm sagten, er solle kleine Jungen töten, zum ersten Mal drei Jahre nach seinem Alkoholrückfall gehört. Zur gleichen Zeit habe er auch angefangen, Schlangen zu sehen, die nicht da waren, oder Gebäude, die sich bewegten. Von diesen Informationen ausgehend wäre sowohl eine Schizophrenie als auch eine Alkoholhalluzinose möglich.
Die Alkoholhalluzinose kommt eher selten vor und auch nurbei Menschen, die vorher jahrelang große Mengen Alkohol zu sich genommen haben. Sie hat ähnliche Merkmale wie die viel bekanntere und häufiger vorkommende Schizophrenie. Deshalb werden die beiden Störungen manchmal miteinander verwechselt. Schizophrenie entwickelt sich aber unabhängig davon, ob jemand vorher alkoholsüchtig war. Und bei näherem Hinsehen gibt es noch einige andere wichtige Unterschiede.
Schließe aus, was unmöglich ist
Ich gehe also nach dem Ausschlussverfahren vor, indem ich zuerst schaue, ob eine der beiden infrage kommenden Störungen die Auffälligkeiten, von denen Garavito erzählt, besser beschreibt als die andere. Dann schaue ich, ob es noch etwas gibt, das gegen die Störung spricht, die die meisten der Auffälligkeiten erklärt.
Bei der Alkoholhalluzinose fängt der Betroffene plötzlich an, Stimmen zu hören und manchmal auch Dinge zu sehen, die nicht da sind. Normalerweise fangen diese Sinnestäuschungen an, nachdem der Alkoholsüchtige weniger als gewohnt oder gar keinen Alkohol mehr getrunken hat. Schizophrene hören ebenfalls oft Stimmen, deutlich seltener sehen sie allerdings nicht vorhandene Dinge. Bei ihnen entwickeln sich die psychischen Auffälligkeiten oft langsamer, nicht so plötzlich wie bei der Alkoholhalluzinose.
Garavito hat behauptet, die Stimmen und Wahrnehmungen hätten bei ihm schlagartig angefangen und seien von da an in ähnlicher Art immer wieder gekommen. Das würde besser zur Alkoholhalluzinose passen. Ob es einen Zusammenhang damit gab, dass er zwischendurch mal größere und mal kleinere Mengen Alkohol getrunken hat, davon hat er nichts gesagt. Allerdings erzählte er Mark, dass er nicht jeden Tag die gleiche Menge und die gleiche Art von alkoholischen Getränken zu sich genommen hat. Das bedeutet, dass sein Alkoholspiegel von Tag zu Tag geschwankt hat. Außerdem behauptete er, dass er die Stimmen auch an Tagen gehört hat, an denen er ausnahmsweise nichts trank. Diese Teile seiner Geschichte würden zu einer Alkoholhalluzinose passen.
Er erklärte auch, dass die Stimmen sich anhörten wie jemand, der neben ihm stehen würde, und nicht so, als wären sie in seinem Kopf oder kämen von einem unbestimmten Ort. Auch das ist typisch für eine Alkoholhalluzinose. Schizophrene können häufig keine genaue Richtung nennen, aus der die von ihnen gehörten Stimmen kommen. Oft hören sie die Stimmen auch nur in ihrem Kopf.
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