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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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Leuten.«
    »Emily, es reicht!«
    Mein Ton war viel zu scharf, so als risse mir gleich der Geduldsfaden. Meine Tochter brach in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer. Ich wandte mich an Julia und sagte: »Tut mir leid … Ich habe gerade ziemlich viel um die Ohren.«
    »Keine Sorge. Keine Sorge. Ich kümmere mich um Emily.«
    »Nein, nein, gehen Sie nach Hause. Ich beruhige sie schon.«
    »Alles gut, Miss Howard?«
    »Ich muss nur mal wieder richtig schlafen.«
    Als ich in Emilys Zimmer kam, sah ich, dass meine Tochter zusammengeringelt auf ihrem Hochbett lag und am Daumen lutschte. Kaum war ich hereingekommen, nahm sie den Daumen aus dem Mund und versteckte ihre Hand schuldbewusst unter dem Kissen. (Ich versuchte gerade, ihr das Daumenlutschen abzugewöhnen.) Ich setzte mich neben sie, strich ihr übers Haar und sagte: »Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe.«
    »Was habe ich getan?«
    »Nichts. Ich habe einfach überreagiert.«
    »Was heißt das?«
    »Ich bin grundlos böse gewesen.«
    »Warum bist du böse?«
    »Weil ich übermüdet bin. Ich kann nicht schlafen.«
    »Weil Daddy nicht da ist?«
    »Das auch, ja.«
    »Aber du läufst nicht weg?«
    »Dich allein lassen? Niemals! Nicht in einer Million Jahren.«
    »Versprichst du mir das?«
    »Natürlich. Und ich verspreche dir auch, nicht mehr böse zu werden.«
    »Das ist ein großes Versprechen«, sagte sie mit einem feinen Lächeln. In diesem Moment musste ich einfach denken: Was ist meine Tochter nur für ein heller Kopf!
    An jenem Abend nahm ich zwei Schlaftabletten, die ich mit einem Becher Kamillentee hinunterspülte. Sie ließen mich ungefähr zwei Stunden schlafen, aber dann war ich wieder wach, starrte an die Decke und fühlte mich wie gehirnamputiert. Ich schluckte noch zwei Tabletten. Ich stand auf. Ich las ein paar Seminararbeiten und wartete darauf, dass die Tabletten ihre Wirkung taten. Nichts passierte. Ich sah auf die Uhr. Es war erst halb zwei. Ich griff zum Telefon und rief Christy an. Sie war auch noch auf und korrigierte Arbeiten.
    »Du machst mir Sorgen«, sagte sie.
    »Ich mir auch.«
    »Du leidest nicht nur an Schlaflosigkeit, sondern auch an einer Depression.«
    »Es geht mir gut. Einmal wieder richtig schlafen, und …«
    »Quatsch. Du sitzt in einem tiefen Loch. Ich rate dir, gleich morgen früh zum Arzt zu gehen und dir Hilfe zu holen. Denn sonst …«
    »Ist ja gut.«
    »Hör auf, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Eine Depression muss man ernst nehmen. Wenn du dich nicht gleich behandeln lässt …«
    »Ich lasse mich behandeln, einverstanden?«
    Aber am nächsten Morgen gab ich Emily in der Krippe ab und eilte zum Zug. Als ich später in meinem Büro zufällig einen Blick in den Spiegel warf, merkte ich erst, wie erschöpft und fertig ich aussah. Ich trank drei große Tassen Kaffee und brachte meine Vorlesungen hinter mich. Dabei fühlte ich mich die ganze Zeit wie ein schlechter Schauspieler, der sich des Körpers dieser angeblichen Englischdozentin bemächtigt hat, die versucht, gebildet und engagiert zu wirken, aber genau weiß, dass sie eine Betrügerin ist. Das Leben bestand für mich nur noch aus einer einzigen Abfolge von Missgeschicken und Misserfolgen, daraus, dass man von seinen Mitmenschen und – was noch viel schlimmer war – von sich selbst bitter enttäuscht ist. Wäre Emily nicht gewesen …
    Nein, nein, so etwas darfst du nicht denken. Aber jetzt geh zum Arzt. Sofort.
    Doch eine andere Stimme – jene, die der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollte – sagte: Heute Nacht wirst du wieder richtig schlafen, dann sieht die Welt morgen schon ganz anders aus. Warum sich noch weiter runtermachen und sich eine Depression andichten? Geh nach Hause, geh ins Bett. Zeig den Arschlöchern, dass du dich von ihnen nicht fertigmachen lässt.
    Und obwohl der Fakultätsarzt an jenem Nachmittag Dienst hatte und ich leicht zu ihm gehen und ihn um eine medikamentöse Lösung für meine höllische Schlaflosigkeit hätte bitten können, zwang mich irgendetwas, mit dem Zug von Boston nach Cambridge zurückzufahren und Emily abzuholen. (Julia hatte an jenem Nachmittag selbst einen Arzttermin.)
    »Mommy! Mommy!«, rief Emily, als sie mich in der Tür der Krippe stehen sah. »Krieg ich eine Belohnung?«
    »Natürlich, mein Schatz.«
    »Bist du müde, Mommy?«
    »Mach dir deswegen keine Sorgen.«
    Ich half ihr in den Mantel und führte sie an der Hand nach draußen.
    »Ich glaube, da ist ein Coffeeshop, in dem es tolle

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