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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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»Als ich einmal angefangen hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören, zu schreiben. Die Geschichte war meine Geschichte, obwohl ich sie stark verfremdete. Sobald ich mich hinsetzte, floss es nur so aus mir heraus, ohne dass ich eine Sekunde lang gezweifelt hätte. Ich kam mir vor wie ferngesteuert – und es war das halbe Jahr meines Lebens, in dem ich begriff, was wahres Glück bedeutet.«
    »Was bedeutet es denn?«, fragte ich.
    »Das Gefühl, dem ganzen Mist – wenn auch nur wenige Stunden am Tag – völlig enthoben zu sein. Dem blöden Alltag, der einen blockiert und zur Verzweiflung treibt.«
    »Erinnere mich daran, dass ich dir lieber nicht mit einem Kater begegnen sollte.«
    »Du kannst mir jederzeit begegnen.«
    Nach dieser Bemerkung entstand eine lange, peinliche Stille. Ich starrte in meinen Martini und wurde rot. David merkte, dass seine Bemerkung als Anmache missverstanden werden konnte, und versuchte sofort zurückzurudern.
    »Was ich damit sagen will, ist …«
    Ich legte meine Hand auf die seine.
    »Psssst«, flüsterte ich.
    In der nächsten halben Stunde ließ ich meine Hand, wo sie war – während er mir mehr von seinem zweiten Roman erzählte. Davon, wie er einfach nicht aus ihm herausfließen wollte, wie er von Anfang an wusste, dass er überambitioniert und überkonstruiert war. Deshalb konzentrierte er sich auf die große Melville-Biografie, für die er einen beträchtlichen Vorschuss von Knopf erhalten hatte. Trotzdem fand er einfach nicht die nötige Ruhe, um daran weiterzuarbeiten.
    Ich hörte mir das alles mit wachsendem Erstaunen an, fühlte mich aber gleichzeitig privilegiert. Es war schließlich David Henry , der mir sein Herz ausschüttete. Und noch dazu zuließ, dass ich meine Hand auf seine legte. Ich musste mir eingestehen, dass dieser wahnsinnig intellektuelle, attraktive, leidende Mann ein unheimliches Aphrodisiakum war.
    »Wenn ich ein echter Schriftsteller wäre«, sagte er, »hätte ich trotz meines chaotischen Privatlebens eine Möglichkeit gefunden, weiterzuschreiben. Denn echte Schriftsteller schreiben einfach. Sie schaffen es irgendwie, alles andere beiseitezuschieben und weiterzumachen. Aber ich habe mich immer bemüht, der große Universalgelehrte zu sein: Akademiker, Schriftsteller, Biograf, Medienliebling, Talkshow-Depp, ein schlechter Ehemann, ein schlechter Vater …«
    »David … hör auf«, sagte ich und drückte seine Hand.
    »So bin ich eben, wenn ich trinke. Dann verwandle ich mich in Bajazzo – den ebenso traurigen wie lächerlichen Clown.«
    Dann stand er abrupt auf, warf Geld auf den Tisch und sagte, er müsse jetzt gehen. Ich griff erneut nach seiner Hand, aber er zog sie weg.
    »Weißt du nicht, dass es heutzutage Regeln gibt, die so etwas verbieten?«, zischte er mich an. »Weißt du nicht, was für Probleme du mir einbrocken kannst?«
    Er setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht. Dann sagte er: »Es tut mir so leid …«
    »Sehen wir zu, dass du nach Hause kommst.«
    Ich führte ihn aus der Bar zum Hotelausgang. Er folgte mir bereitwillig, stieg in ein Taxi und murmelte seine Adresse. Nachdem es weggefahren war, kehrte ich in die Bar zurück und trank meinen Martini aus, wobei ich versuchte, mir über das klar zu werden, was soeben passiert war. Am meisten überraschte mich, dass mich die Schau, die David soeben abgezogen hatte, weder schockierte noch kränkte. Wenn überhaupt, erkannte ich die vielen Widersprüche, mit denen er lebte – die private Traurigkeit hinter seiner Fassade und auch, wie sehr sie sein Leben beeinflusst hatte. Wir bewundern die Menschen stets aus der Ferne, vor allem diejenigen, die so viel aus ihrem Leben gemacht haben. Aber wenn man zuhörte, wie David seiner Wut und seinem Frust Luft machte, wurde man nachdenklich: Es kommt eben niemand ungeschoren davon. In dem Moment, in dem man denkt, man hätte es geschafft, geht es auch schon bergab.
    Während ich meinen Martini leerte, verstand ich noch etwas anderes: David verkörperte alles, was ich bei einem Mann suchte. Er war brillant, originell, verführerisch, sensibel. Ich wollte ihn – auch wenn mir klar war, dass ich einfach nur verknallt war und mich auf gefährliches Terrain begab. Doch obwohl ich große Lust hatte, diesem Gefühl nachzugeben, war ich gleichzeitig fest entschlossen, keine Katastrophe zu verursachen. Ich wusste genau, dass nichts zwischen uns passieren würde, bevor David nicht den ersten Schritt machte.
    Ich brauchte nicht lange darauf zu warten.

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