Aus der Welt
einmal abgesehen, als er mich dazu brachte, über die Trennung von Tom zu sprechen, bewegten wir uns auf neutralem Boden.
Bis zu einem Spätnachmittag Mitte Mai, als wir uns gerade mitten in einem Gespräch über Sherwood Anderson befanden und das Telefon klingelte. Normalerweise ignorierte David das Telefon bei unseren allwöchentlichen Tutorien. Doch als es an jenem Tag klingelte, zuckte er zusammen, griff danach und sagte: »Da muss ich rangehen …«
»Soll ich den Raum verlassen?«, fragte ich.
»Nein, nicht nötig.«
Er nahm das Telefon, drehte sich auf seinem Bürostuhl so, dass er mir den Rücken zukehrte, und begann aufgeregt zu flüstern.
»Ja, hallo … Hör mal, ich bin nicht allein … Was hat der Arzt gesagt? Er hat natürlich recht, natürlich hat er recht … Nein, ich will dich nicht unter Druck setzen, ich will doch nur … Das ist allein deine Schuld, weil du die Medikamente nicht nimmst und dann solche Rückfälle bekommst … Deswegen musst du doch nicht … Na gut, na gut, tut mir leid, ich … O Gott, würdest du bitte … Ja, ich werde wütend, verdammt wütend, ich halt das einfach nicht mehr aus, du …«
Plötzlich verstummte er – als wäre aufgelegt worden. Er saß wie erstarrt auf seinem Stuhl und versuchte, seine Wut zu zähmen. Es verging mindestens eine Minute, in der David einfach nur aus dem Fenster sah. Schließlich sagte ich: »Professor Henry, vielleicht sollte ich lieber …»
»Es tut mir leid. Sie hätten das nicht mit anhören sollen.«
»Ich gehe.«
Er drehte sich nicht mehr zu mir um.
»Gut«, sagte er.
Als ich ihn in der nächsten Woche wiedersah, war er betont sachlich – und setzte unser Gespräch über Sherwood Anderson fort. Aber am Ende der Stunde fragte er mich, ob ich Zeit auf ein Bier hätte.
Aus dem Bier wurde ein Martini in der Bar des Charles Hotels unweit des Harvard Square. Er trank seinen – mit Gin und drei Oliven – in drei Schlucken aus und holte eine Schachtel Zigaretten hervor.
»Ja, ich weiß, es ist eine widerliche Angewohnheit. Und ich weiß auch, dass es kaum Zigaretten gibt, die noch mehr stinken und noch angeberischer sind als Gitanes – aber ich rauche höchstens zehn am Tag.«
»Professor Henry, ich bin kein Gesundheitsapostel. Rauchen Sie ruhig.«
»Sie sollten mich nicht länger Professor nennen.«
»Aber das sind Sie nun mal.«
»Nein, das ist nur mein Titel. Ich heiße David – und bestehe darauf, dass Sie mich in Zukunft David nennen.«
»Prima«, sagte ich, etwas überrascht über die Vehemenz, mit der er das sagte. David ging es anscheinend ähnlich, denn er rief die Kellnerin, um einen zweiten Martini zu bestellen, und zündete sich noch eine Zigarette an, obwohl bereits eine im Aschenbecher qualmte.
»Tut mir leid«, sagte er. »In letzter Zeit ertappe ich mich immer öfter bei dem Gedanken …«
Er verstummte und begann von Neuem: »Kennst du das Gefühl, so was von wütend zu sein, dass …«
Ein weiterer Zug an seiner Zigarette.
»Ich sollte eigentlich gar nicht darüber reden«, sagte er.
»Ist schon in Ordnung. Reden Sie nur, Professor Henry … ähm, David.«
Er nahm einen weiteren langen Zug an seiner Zigarette.
»Vor zwei Wochen hat meine Frau versucht, sich umzubringen. Das ist schon das dritte Mal in diesem Jahr.«
Da hörte ich zum ersten Mal, dass David Henry – trotz seines beruflichen Erfolgs und seines akademischen Renommees – privat die Hölle auf Erden hatte. Sie hieß Polly Cooper. Sie waren seit über zwanzig Jahren verheiratet, und den Fotos aus den 1970er-Jahren nach zu urteilen, die ich in seinem Büro gesehen hatte, war sie eine gertenschlanke Schönheit gewesen. Als er sie kennenlernte, hatte sie gerade eine Anthologie mit Kurzgeschichten bei Knopf veröffentlicht und ein großes Avedon-Fotoshooting für die Vogue gemacht. 1971 brachte die New York Times ein Porträt über sie und bezeichnete sie als »unglaublich schön und unglaublich klug«. Als David und sie ein Paar wurden – er hatte gerade den National Book Award sowie fantastische Kritiken für sein Romandebüt bekommen und war schon mit dreißig Professor in Harvard –, waren sie das Glamour-Paar schlechthin, das noch ganz andere Gipfel erklimmen würde.
»Als ich Polly begegnete, war es für uns beide Liebe auf den ersten Blick – schon nach einem halben Jahr haben wir geheiratet. Ein Jahr später kam unser Sohn Charlie zur Welt – und wenige Wochen später geriet Polly ins Trudeln. Sie schlief nicht mehr, aß
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